Lesung in Rheinbach „Haare waschen geht auch im Zug“

Rheinbach · Im Gespräch am Wochenende erzählt Leonie Müller (25), wie sie 18 Monate lang im ICE lebte. Am Dienstag ist sie "Zu Gast auf dem Sofa" in Rheinbach und liest aus „Tausche Wohnung gegen Bahncard“.

 Leonie Müller hat ein Jahr lang im Zug gelebt und darüber ein Buch geschrieben.

Leonie Müller hat ein Jahr lang im Zug gelebt und darüber ein Buch geschrieben.

Foto: Gaby Gerster

Im Eiltempo bringen Hochgeschwindigkeitszüge Menschen von einem Ort zum anderen. Nicht so Leonie Müller. Die mobile Studentin lebte mehr als ein Jahr lang in Zügen. Sie gab ihr WG-Zimmer in Stuttgart auf, verschenkte das Gros ihrer Möbel und legte sich eine Bahncard 100 zu. Am Dienstag, 12. Juni, 19.30 Uhr, ist Müller, die ihre Erlebnisse auf und neben der Schiene im Bestseller „Tausche Wohnung gegen Bahncard“ festgehalten hat, in der Rheinbacher Hochschul- und Kreisbibliothek „Zu Gast auf dem Sofa“. Mit der 25-Jährigen sprach Mario Quadt.

Wie lebt es sich auf der Schiene? Waschen Sie sich im Zug die Haare? Meiner Erinnerung nach kommt selbst im ICE kein warmes Wasser aus dem Hahn.

Leonie Müller: Das stimmt. Haare waschen geht auch im Zug. Das habe ich ein paarmal gemacht – an sehr heißen Sommertagen, wie wir sie zur Zeit haben. Ich fand es immer ganz erfrischend. Da ich es nur an heißen Tagen tat, hat das kalte Wasser nicht gestört.

Müller: Genau. Dunkelbau ist einfach meine Lieblingsfarbe. Darum fühle ich mich sehr wohl in der Zweiten Klasse. Ich finde es praktisch, weil man es sehr schön kombinieren kann und es so viele unterschiedliche Dunkelblautöne gibt. Es sieht auch noch schick aus, wenn man mal schick sein möchte.

Müller: Auf jeden Fall habe ich festgestellt, dass Heimat und Zuhause etwas anderes sind. Heimat ist etwas, was tiefer geht. Ich habe keine Definition für Heimat, die ich in Worte fassen könnte. Aber tatsächlich hängt Heimat für mich mit der Region Bielefeld zusammen, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Dorthin fühle ich mich heimatlich verbunden. Allerdings gilt das in den vergangenen Jahren auch vermehrt für Stuttgart. Mit Orten, mit denen wir seit unserer Kindheit verbunden sind, gibt eine ganz eigene Art von Verbundenheit. Deswegen sind Bielefeld und Stuttgart für mich heimatliche Regionen. Ich würde es aber nicht als mein Zuhause beschreiben, weil ich dort gegenwärtig nicht lebe.

Müller: Das Praktische ist, dass heutzutage fast alles, was wir an Literatur brauchen, digitalisiert ist. So kann ich mir das alles auf den Laptop herunterladen. Ab und zu muss man schon mal ein Buch kaufen oder sich ausleihen, aber ein bis zwei Bücher kann man gut mitzunehmen. Es ist sehr praktisch, dass so ziemlich alles – vor allem Lexika – digital zur Verfügung steht.

Müller: Ja, diese Möglichkeiten gibt es noch nicht so lange. Das ist hochspannend, vor allem bezogen auf Mobilität. Solche Entwicklungen ermöglichen erst solche Lebensentwürfe wie meine.

Müller: Nee, im Gegenteil. Das Meiste habe ich ja bei meiner Familie in den Keller gestellt. Somit bin ich erstmals damit konfrontiert worden, was ich alles an Kram habe – an sinnvollem Kram oder weniger sinnvollem, aber vielleicht schönem Kram. Ich habe das als sehr befreiend empfunden. Denn alles, was ich mithabe, trage ich auf meinem Rücken. Das wiederum sorgt dafür, dass ich sehr genau selektiere, was ich mitnehme. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, alles zu kaufen, was ich sehe und toll finde. Ich mache mir eher Gedanken: Kann ich das mitnehmen, brauche ich das wirklich? Spannend finde ich, dass ich durch Innenstädte gehe und mein Gehirn nimmt gar nicht wahr, was alles zu sehen ist – nur, was dunkelblau oder schwarz ist. Das ist schon krass, wie viel Zeit mir das spart.

Müller: Auf jeden Fall. Das ist schon ziemlich paradox. Aber vieles im Leben ist paradox: Ich hatte in einem Kapitel versucht, herauszufinden, warum wir sesshaft geworden sind. In der Sesshaftigkeit stecken nach meinem Gefühl ein paar Ungereimtheiten. Wir sind immer unterwegs zu den Orten, an denen wir sesshaft sind. Dazu zählen der Ort, an dem wir leben, das Büro als sesshafter Arbeitsplatz und die Freizeitgestaltung. Das heißt: Wir sind so sesshaft und so mobil wie noch nie. Darum ist der Kopfhörer gar nicht so paradox: Je schneller die Welt wird, desto schneller muss man versuchen, runterkommen.

Müller: Nein, aber das wäre eine schöne Idee. Ich versuche, wenig im Zug zu telefonieren, weil die anderen das als ziemlich störend empfinden. Wenn es superwichtig ist, suche ich mir eine ruhige Ecke und versuche zu telefonieren – wenn der Empfang hält...

Müller: Ich habe tatsächlich verschiedene Leute getroffen, die mehr oder weniger etwas ähnliches machen oder gemacht haben. Da bin ich nicht die Erste und nicht die Letzte.

Müller: Es gibt schon so ein paar Ideen, was ich machen könnte. Aber es hat auf jeden Fall alles mit dieser Mischung zu tun, dass man einen normalen Alltag hat, aber eine Sache anders macht – und Positionen in Frage zu stellen.

Leonie Müller (geboren 1992) wuchs in Bielefeld auf und sieht sich selbst als „Studentin und Reisende“. Frei nach dem Werbeslogan „Wohnst du noch oder lebst du schon“ tauschte sie von Mai 2015 bis Oktober 2016 für fast eineinhalb Jahre ihre Wohnung in Stuttgart gegen eine Bahncard 100 ein. Dieses Bahnticket erlaubt es ihr, in jeden Fern- und Regionalzug in Deutschland einzusteigen. Während dieser Zeit legt sie zwischen 1200 und 2000 Kilometer pro Woche mit der Bahn zurück. Nach ihrem Bachelorstudium in Tübingen absolviert sie derzeit ein Masterstudium der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Nach ihrem Reise-Experiment hat sie sich eine kleine Wohnung in Köln zugelegt, eine Bahncard 100 hat sie allerdings immer noch.

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