Abendgymnasium Rhein-Sieg Susi Kalbfleisch macht mit 55 Jahren ihr Abitur

Rhein-Sieg-Kreis · Susi Kalbfleisch holt mit 55 Jahren ihr Abitur am Abendgymnasium Rhein-Sieg nach. Damit ist sie eine von derzeit 350 Schülern an der Siegburger Einrichtung. Trotz sich wandelnder Bildungslandschaft ist die Nachfrage ist ungebrochen.

 Lernen für den Unterricht: Susi Kalbfleisch macht das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg am Abendgymnasium Rhein-Sieg.

Lernen für den Unterricht: Susi Kalbfleisch macht das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg am Abendgymnasium Rhein-Sieg.

Foto: Holger Arndt

Mit 55 Jahren drückt Susi Kalbfleisch noch einmal die Schulbank. Sie will ihr Abitur am Abendgymnasium Rhein-Sieg (AGRS) nachholen. Damit ist sie eine von rund 350 Schülern des AGRS, das in Siegburg im Volkshochschul-Studienhaus und im Gymnasium Alleestraße sitzt und eine Außenstelle in Gummersbach hat. Unlängst hat Schulleiter Thomas Heußner die 50. Abiturklasse verabschiedet.

Am Abendgymnasium können Erwachsene auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur oder ihr Fachabitur nachholen und sich damit Aufstiegschancen im Beruf erarbeiten. Die Schüler müssen mindestens 18 Jahre alt sein, zwei Jahre Berufserfahrung haben und neben der Schule berufstätig sein. Der Wandel der Schullandschaft macht sich allerdings auch am AGRS bemerkbar: „Viele machen das Abitur jetzt auf dem ersten Bildungsweg“, sagt Thomas Heußner.

Das Regelschulsystem in NRW ist seit einigen Jahren stärker auf das Abitur ausgerichtet. Seit 2011 der sogenannte Schulfrieden zwischen rot-grüner Landesregierung und CDU geschlossen wurde, laufen in den Kommunen Hauptschulen und teilweise auch Realschulen aus und werden vor allem durch Gesamtschulen ersetzt. Eine Entwicklung, die sich längst auch zwischen Rheinbach und Windeck widerspiegelt: Von 20 Hauptschulen im Rhein-Sieg-Kreis laufen 16 aus. Dem stehen seit 2011 elf kommunale Gesamtschul-Gründungen gegenüber. Die Gesamtschulen bieten das Abitur nach neun Jahren an, womit die Schüler ein Jahr mehr Zeit haben als an Gymnasien. Auch Berufskollegs bieten das Abitur als Abschluss an.

Abitur ist immer gefragter

An den zehn Weiterbildungskollegs im Regierungsbezirk Köln war die Schülerzahl in den vergangenen zwei Jahren laut Bezirksregierung leicht rückläufig. Darunter fallen nicht nur Abendgymnasien, sondern auch Kollegs, an denen Haupt- und Realschulabschlüsse nachgeholt werden können – so wie in Bonn. Das 1989 gegründete AGRS in Siegburg ist eines von zwei reinen Abendgymnasien im Regierungsbezirk. Das zweite befindet sich in Aachen. „Unsere Schülerzahl stagniert bei rund 350“, sagt Thomas Heußner. Er macht sich aber keine Sorgen um die weitere Entwicklung. Gerade weil das Abitur immer gefragter sei, behalte das Abendgymnasium seinen Platz in der Bildungslandschaft. „Bildung ist mittlerweile der Wirtschaftsfaktor schlechthin“, sagt die stellvertretende Schulleiterin Kerstin Meschede-Jelinek. Aufstiegschancen im Beruf habe man heute meist nur mit Abitur, weniger mit der Mittleren Reife. „Viele merken erst nach einigen Jahren im Beruf, dass sie Veränderungen herbeisehnen und sich hocharbeiten wollen“, sagt Thomas Heußner.

So erging es auch Susi Kalbfleisch: Mit 17 Jahren machte sie ihren Realschulabschluss in Freiburg. Sie ließ sich zur Kinderkrankenschwester ausbilden – ihr damaliger Traumberuf. Heute arbeitet sie im Sankt-Josef-Hospital in Troisdorf. Seit 33 Jahren übt sie ihren Beruf schon aus, nun möchte sie sich verändern und studieren. Ganz so einfach war das bislang nicht: „Als Krankenschwester ist man total festgelegt. Ohne Abitur kann man nichts anderes machen“, so die Lohmarerin. Ihr Abschluss am AGRS ist gleichrangig mit einem Abitur an einem Tagesgymnasium: Hier wie dort werden die Prüfungen des NRW-Zentralabiturs geschrieben.

Der große Unterschied zum Abitur im ersten Bildungsweg liegt woanders: Wer das Abendgymnasium besucht, ist berufstätig. Der Unterrichtsplan umfasst deshalb nur 22 Stunden, die sich meist auf vier Tage in der Woche verteilen. Die Unterrichtszeiten sind entweder abends ab 17.30 Uhr oder – trotz der althergebrachten Bezeichnung „Abendgymnasium“ – vormittags von 8 bis 13 Uhr. Die durchschnittliche Klassengröße am AGRS umfasst 22 Schüler, der Altersdurchschnitt liegt zwischen 25 und 30 Jahren. Normalerweise dauert es bis zum Abitur drei Jahre.

60 Prozent der Schüler halten durch

Doch nur 60 Prozent der Schüler kämen am Abendgymnasium tatsächlich zum Abitur, berichtet Heußner, der 2015 vom Bornheimer Alexander-von-Humboldt-Gymnasium nach Siegburg wechselte. Die niedrige Quote sei nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die Schüler die Prüfungen nicht packen. Vielmehr würden viele den zweiten Bildungsweg abbrechen, da es ihnen einfach zu viel werde. „Die meisten Schüler haben eine dreifache Belastung: Schule, Beruf und Familie“, berichtet Meschede-Jelinek. Das alles unter einen Hut zu bekommen, sei schwierig.

Susi Kalbfleisch hat für ihr Abitur ihre Stundenzahl im Krankenhaus verringert. Sie arbeitet jetzt nur noch am Wochenende. Neben dem Zeitaufwand in der Schule brauche sie zu Hause meist 20 Stunden pro Woche für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichtsstoffes und das Lernen für die Prüfungen. „Das ist meine letzte Chance, das Abitur zu machen. Deswegen nehme ich mir die Zeit“, sagt die 55-Jährige.

Als sie 2014 am AGRS begann, fand sie das Lernen noch anstrengend. Jetzt hat sie sich daran gewöhnt und wird für ihren Fleiß belohnt: Ende des Jahres hat sie das Abitur in der Tasche; momentan liegt ihr Notendurchschnitt bei 1,4. Sie bereue es nicht, das Abitur nicht schon auf dem ersten Bildungsweg gemacht zu haben: „Dann hätte ich nicht das gleiche Leben gehabt, meinen Mann nicht kennengelernt, meine Kinder nicht bekommen.“ Jetzt, mit 55, habe sie die ideale Einstellung, das Abitur bestmöglich abzuschließen.

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