Hermann Tengler im Interview Kreis-Wirtschaftsförderer sieht eine Renaissance des Landlebens

Rhein-Sieg-Kreis · Der Wirtschaftsförderer des Kreises sieht Anzeichen für ein Erstarken ländlicher Gebiete. Im Interview spricht er über das östliche Kreisgebiet, den Verkehr und den Ausbau des schnellen Internets.

Landflucht war gestern: Hermann Tengler ist seit 1989 Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises.

Landflucht war gestern: Hermann Tengler ist seit 1989 Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises.

Foto: Meike Böschemeyer

Der ehemalige Kreis-Sozialdezernent Hermann Allroggen warnte einmal vor einem West-Ost-Gefälle in der Region. Belebte Städte an der Rheinscheine, sterbende Dörfer an der oberen Sieg – sehen Sie diese Gefahr auch?

Hermann Tengler: Diese Entwicklung ist längst erkennbar, etwa bei der Kaufkraft. Sie liegt im Rhein-Sieg-Kreis insgesamt sieben bis acht Prozent über dem Bundesdurchschnitt. In den Gemeinden Windeck, Eitorf und Ruppichteroth ist sie aber unterdurchschnittlich. Oder nehmen wir das krasse Preisgefälle bei Immobilien: In Windeck haben Sie vor wenigen Jahren ein Haus mit 120 Quadratmetern Wohnfläche auf einem 650 Quadratmeter großen Grundstück für 94.000 Euro bekommen. Ein paar Kilometer weiter westlich werden für ein vergleichbares Objekt 400.000 Euro verlangt und auch bezahlt. Diese Kluft habe ich nie verstanden.

Warum ist das östliche Kreisgebiet so strukturschwach?

Tengler: Früher war das ein bedeutender Industriestandort mit Firmen wie Huwil, Boge, Schöller oder Kabelmetal. Davon ist nicht viel geblieben. Diese Unternehmen hatten zusammen mehr als 4000 Arbeitsplätze, viele davon für Geringqualifizierte. Als ich 1989 zum Kreis kam, besuchte ich die Huwil-Werke. Da saßen Hunderte Frauen, die einfache Handarbeiten erledigten. Das wirkte damals schon wie aus der Zeit gefallen. Nach den Betriebsschließungen kamen nicht mehr viele Unternehmen nach. Die Arbeitslosenzahlen stiegen, damit auch soziale Probleme – die wiederum durch den günstigen Wohnraum verschärft wurden.

Wie wollen sie diese Abwärtsspirale stoppen?

Tengler: Inzwischen bin ich optimistisch, dass sich das Land stabilisiert und eine Renaissance erfährt. In der Region zeichnet sich so etwas wie eine Re-Suburbanisierung ab.

Eine Re-Suburbanisierung? Das müssen Sie erklären.

Tengler: Dazu muss man einige Jahrzehnte zurückgehen. Wir hatten bis in die 90er Jahre eine Phase der Suburbanisierung, bei der die Städte Einwohner ans Umland verloren haben. Damals entstanden die Speckgürtel. Auch in unserer Region. Bonn ist in den 90er Jahren phasenweise geschrumpft, während der Kreis durchgehend starke Zuwächse verzeichnete. Städte wie Meckenheim oder Sankt Augustin gehörten ja lange zu den schnellstwachsenden Kommunen in Deutschland. Die Entwicklung hat sich seit 1999 allgemein umgekehrt. Seitdem wachsen die großen Städte wieder, im Gegensatz zum suburbanen Raum. Auch der Kreis stagnierte zeitweise, 2008 schrumpfte er sogar. Inzwischen steuern wir aber auf die Marke von 600.000 Einwohnern zu.

Was waren die Gründe für den Run auf die Städte?

Tengler: Sie sind vor allem für die Jungen attraktiv, die Generation der 18- bis 30-Jährigen. Sie ziehen zur Ausbildung, zum Studium oder zum Einstieg in den Beruf in die Stadt. Aber auch viele Unternehmen suchen den urbanen Raum. Dort hat sich ein sektoraler Strukturwandel vollzogen: weg von der Industrie, hin zur wissensintensiven Dienstleistung, also etwa Forschung, Entwicklung, Unternehmensberatung oder Kreativbereich. Diese Unternehmen setzen auf Arbeitskräfte mit akademischer Ausbildung, die sie wiederum in den Städten finden.

Warum soll das Pendel wieder zugunsten des Landes ausschlagen, wenn die Städte so gefragt sind?

Tengler: Das passiert zwangsläufig, weil die Städte voll und teuer sind. In Bonn ist der Wohnraum nicht vorhanden oder nicht mehr bezahlbar. Firmen haben praktisch keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr. Hinzu kommen Probleme wie Lärm oder Umweltprobleme, die bei den Menschen zu einem Umdenken führen. Auch steigen wieder die Geburtenraten, es werden wieder mehr Familien gegründet. Das führt bei der jungen Generation zu einer Präferenzverschiebung, weg vom Wohnen in der Stadt hin zum eigenen Haus. Und das ist eher im Umland zu finden. Zudem hat das Land imagemäßig aufgeholt. Ländlicher Lebensstil, die Nähe zur Natur, das Bedürfnis nach Gemeinschaft – das liegt im Trend. Diese Entwicklungen führen zur Re-Suburbanisierung.

Gibt es Zahlen, die diese Verlagerung belegen?

Tengler: Bonn verliert zunehmend Einwohner an den Rhein-Sieg-Kreis. Zwischen 2000 und 2010 waren es im Durchschnitt 600 pro Jahr, zwischen 2011 und 2016 dann schon 1250 pro Jahr. Das sind vor allem die Altersgruppen zwischen 30 und 50. Die einzige Gruppe, in der wir Einwohner an Bonn verlieren, sind weiterhin die 18- bis 25-Jährigen. Nicht zuletzt macht sich auch im Osten des Kreises wieder eine stärkere Nachfrage nach Wohnraum bemerkbar. Auch bei der Industrie sehen wir den Trend zur Re-Suburbanisierung: Nur noch acht Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Bonn sind in der Industrie tätig, im Kreis sind es 27 Prozent. Die Betriebe finden dort eben eher die nötigen Flächen. Darauf zielt ja auch das gemeinsame Gewerbeflächenkonzept mit Bonn.

Wenn immer mehr Menschen aufs Land ziehen, gibt es auch mehr Pendler. Ergo: mehr Verkehr.

Tengler: Das ist richtig, und das ist das große Problem der Region. In Köln, Bonn und Leverkusen leben 1,5 Millionen Einwohner, und es gibt dort 770.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In den Umlandkreisen leben 1,6 Millionen Einwohner. Dort haben aber nur 460.000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Was das bedeutet, sehen wir morgens und abends auf den Straßen und in den Bahnen. Da man Verkehrswege nicht endlos ausbauen kann, muss es Ziel sein, Wohnen und Arbeiten in der Region gleichmäßiger zu verteilen.

Wie wollen Sie überzeugte Städter wie die wissensintensiven Dienstleister oder Start-Ups dazu bekommen, aufs Land zu ziehen?

Tengler: Das wird eine große Aufgabe der nächsten Jahre sein. Bisher scheiterte es vor allem an der mangelhaften Breitbandversorgung. Aber der Breitbandausbau im Rhein-Sieg-Kreis wird kommen. Er ist der entscheidende Hebel für die ländliche Entwicklung. Wir wollen flächendeckend eine Übertragungsrate von mindestens 50 MBit/s ermöglichen. Wir erhalten 20 Millionen Euro an Fördermitteln vom Bund. Damit bringen wir dort den Ausbau voran, wo sich Telekommunikationsunternehmen von selbst nicht engagieren.

Wie ist der Stand des Ausbaus?

Tengler: Wir wären gerne weiter. Es gab eine Verzögerung, weil wir die einmalige Chance nutzen wollten, alle unsere 184 Schulen direkt ans Glasfasernetz zu bringen. Ich gehe aber davon aus, dass wir in diesem Jahr mit dem flächendeckenden Ausbau beginnen.

Für Wohnen und Arbeiten braucht es Flächen. Gibt es die denn noch im Umland?

Tengler: Nach jetzigem Stand wird es schwierig, den Wohnraumbedarf – 30 000 zusätzliche Wohneinheiten bis 2030 – im Kreis zu befriedigen. Die Zahl der Baugenehmigungen blieb im Kreis 2017 weit hinter dem Bedarf zurück, und die Kommunen sehen viele Hemmnisse bei der Entwicklung von Bauland. Wir hoffen, dass durch die Überarbeitung des Landesentwicklungsplans die Kommunen mehr Möglichkeiten erhalten, noch zu wachsen. Was die Realisierung größerer Gewerbegebiete angeht, liegt das Potenzial hauptsächlich im Linksrheinischen.

Im Bergischen und an der oberen Sieg setzen Sie auf das Strukturförderprogramm Regionale 2025. Was bringt es konkret?

Tengler: Wir wollen die Bedingungen für Wohnen, Arbeiten und Mobilität verbessern. Ein Grundgedanke ist, das Wissen, das in Hochschulen und Forschung an der Rheinschiene so reichlich vorhanden ist, dem ländlichen Raum besser verfügbar und dadurch den Standort für die vorhandenen Unternehmen, aber auch für innovative Startups und Neuansiedlungen attraktiver zu machen. Das ist die Idee hinter der Kommunalen Innovationspartnerschaft zwischen der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und Neunkirchen-Seelscheid. Das ist nur eine von bislang 74 Projektideen. Die Regionale erleichtert den Zugang zu Fördermitteln. Wenn wir es gut machen, können wir sicherlich einen dreistelligen Millionenbetrag einwerben.

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