GA-Serie "Macht und Mehrheit" Rat ohne Koalition: So werden Mehrheiten geschmiedet

Sankt Augustin · Die Stadt- und Gemeinderäte sind bunter geworden, nicht zuletzt durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde. Geben die Mehrheitsverhältnisse keine stabile Koalition her, muss sich jeder bewegen. So wie in Sankt Augustin. Der GA hat die langjährige FDP-Ratsfrau Stefanie Jung begleitet.

 Zwischen Aktenordnern im Fraktionsbüro: Stefanie Jung gehört zu den dienstältesten Mitgliedern im Rat von Sankt Augustin.

Zwischen Aktenordnern im Fraktionsbüro: Stefanie Jung gehört zu den dienstältesten Mitgliedern im Rat von Sankt Augustin.

Foto: Nicolas Ottersbach

Verwaltungsgebäuden aus den 70er Jahren haftet allgemein kein guter Ruf an. Sie gelten als schnöde Zweckbauten, als Monumente der Scheußlichkeit. Doch zwischen Waschbeton, Spiegelfassaden und Holzvertäfelung wird sichtbar, dass die damaligen Architekten neue Wege beschritten. In jener Zeit, in der man mehr Demokratie wagen wollte, entwickelten sie neue gestalterische Visionen. Öffentliche Gebäude trugen nun den Geist von gesellschaftlichem Aufbruch, Offenheit und Miteinander in sich.

Das Sankt Augustiner Rathaus ist in seiner braun ummantelten Klobigkeit unzweifelhaft eine Schöpfung der 70er Jahre. Aber auch da haben die Erneuerer von einst Akzente gesetzt. Der Ratssaal ist achteckig. Im Rat sitzen alle – Fraktionen, Bürgermeister, Verwaltung, Besucher, Presse – auf einer Ebene. Niemand ist durch Stufen höher gestellt, keine Säule verstellt den Blick. Hier wird die Politik der 55 000-Einwohner-Stadt gemacht. Aber wer macht sie tatsächlich?

Partner im Rat nennen sich "Smarties"

Ein schweißtreibender Mittwochabend. Gleich beginnt die letzte Ratssitzung vor den Sommerferien. Stefanie Jung hat noch im FDP-Fraktionsbüro zu tun. Seit fast 30 Jahren ist sie Parteimitglied, seit 22 sitzt sie im Stadtrat. Unter den 50 Ratsmitgliedern gehört sie zu den dienstältesten. So spannende Zeiten wie jetzt hat die 66-Jährige im Rat noch nicht erlebt. Nach der Kommunalwahl 2014 reichte es nicht mehr für das Bündnis von CDU und FDP. Die CDU blieb stärkste Fraktion, fand aber keinen Partner mehr. Die Liberalen orientierten sich mehr in Richtung SPD und Grüne. Daraus entstand eine neue Form der Zusammenarbeit. Die drei Fraktionen starten Initiativen und bekommen zusammen mit der Linken oder der Wählerinitiative Aufbruch eine Mehrheit ohne die CDU. „Wir haben keine Koalition, wir arbeiten je nach Sachthema zusammen“, sagt Stefanie Jung. Ironisch nennen sie sich „Smarties“ – sind die Parteien doch so vielfarbig wie die Schokolinsen. „Jeder Smartie schmeckt einzeln, man kann aber auch mehrere auf einmal essen.“

So muss sich in Sankt Augustin jeder nach der Decke strecken, der eine Mehrheit auf die Beine stellen will. Früher war es übersichtlicher: Die CDU organisierte die Ratsmehrheit, und mit Klaus Schumacher kommt seit 1999 auch der Bürgermeister aus den Reihen der CDU. Damals wurde in NRW die Doppelspitze abgeschafft, seither werden die Bürgermeister direkt gewählt. Sie sitzen dem Rat vor, und sie sind zugleich Chef der Verwaltung. Sie sollen keine Parteipolitik machen, sondern über den Dingen stehen. Aber natürlich möchten auch Bürgermeister gestalten und durchregieren. Das funktioniert besonders dann, wenn auch die eigene Partei im Rat für die Mehrheit sorgt. Solche Konstellationen – im Rhein-Sieg-Kreis traditionell meist unter Federführung der CDU – garantieren Kontinuität, führen auf Dauer aber auch zu Erstarrung.

Klassische Mehrheitsverhältnisse lösen sich auf

Diese althergebrachten Ordnungen lösen sich zunehmend auf. Viele Räte sind bunter geworden, auch durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel. In Sankt Augustin haben 2014 die kleineren Fraktionen das Heft des Handelns an sich gezogen. SPD, Grüne und FDP bringen in ihrem pragmatischen Verbund ihre Herzensthemen ein, ob es nun um im Boden versenkbare Müllcontainer oder um Spitzenpersonal im Rathaus geht. Anträge werden via E-Mail hin- und hergeschickt, angepasst, mehrheitsfähig gemacht. Gelegentlich stimmt am Ende auch die CDU mit.

„Man muss den Kompromiss ertragen können. Nur wenn es ganz und gar nicht meine Meinung ist, stimme ich nicht mit“, sagt Jung über diese Konstellation. Nicht immer ließen sich parteipolitische Rivalitäten überwinden. Beim Thema Radverkehr etwa sei sie mit den Grünen nicht auf einer Linie, bei der Steuerpolitik sei es mit den Linken schwierig. Was die drei Ratsmitglieder zählende FDP in den vergangenen Jahren erreicht habe? Jung überlegt kurz: die Einführung eines Bauinvestitionscontrollings etwa. Und ein Personalentwicklungskonzept.

Rat schaut Verwaltung auf die Finger

Die Sitzung läuft. Bürgermeister Schumacher arbeitet trocken die Tagesordnungspunkte ab. Es ist nicht die Stunde der virtuosen Redeschlachten, vieles wurde schon in Ausschüssen diskutiert. Stefanie Jung wartet auf Punkt 15, der auf ihr Betreiben auf die Tagesordnung genommen wurde. Es geht um die Neubesetzung der Leitung des Rechnungsprüfungsamts. Der Amtsinhaber geht in Ruhestand, die Stelle soll neu ausgeschrieben werden – eine Schlüsselfunktion, denn das Rechnungsprüfungsamt schaut der Verwaltung auf die Finger und ist dem Rat unterstellt. Lang und zäh wird darüber schon beraten. So ist es umstritten, ob die Stelle nach A 14 oder A 15 bewertet wird. Die Vertreter der Smarties blicken mit Argusaugen auf das Verfahren: Es soll bloß keiner nachrücken, der dem Bürgermeister nach dem Mund redet.

Vor allem FDP-Frau Jung treibt das Thema um, sie hat sich tief in Akten und Gutachten eingearbeitet. In der Sitzung hakt sie nach, doch der Bürgermeister vertröstet sie auf den Herbst. Die Verwaltung werde dem Rat dann eine Vorlage zur Entscheidung vorlegen. Jung gibt sich damit nicht zufrieden. Ihre Hartnäckigkeit und die Detailversessenheit bei diesem Thema mögen Außenstehende verwundern. Doch letztlich reklamiert sie damit ein ureigenes Recht des Rates: die Kontrolle der Verwaltung durch gewählte Vertreter. Rat und Verwaltung begegnen sich daher in allen Kommunen in einem Spannungsfeld. In Sankt Augustin ist das Verhältnis jedoch auch durch Misstrauen belastet. So hinterließ etwa ein Riesenkrach um den verwaltungsinternen Umgang mit Baumängeln an einem neuen Flüchtlingsheim Spuren.

Allergisch gegen Kirchturmdenken

Besuch bei Stefanie Jung. Sie sitzt daheim in Menden im Garten, doch Entspannung stellt sich kaum ein. Immer wieder klingelt das Telefon: Bürger, Parteikollegen, Smarties. Es gibt immer etwas mitzuteilen, auszutauschen, abzustimmen. Wie viel Zeit sie in die Kommunalpolitik investiere? „In den Sitzungswochen entspricht es ungefähr einer Halbtagsstelle“, sagt die 66-Jährige über ihr Ehrenamt. „Die Themen sind komplex. Man muss sich einarbeiten, wenn man nicht ahnungsloses Stimmvieh sein will.“

1988 stieß sie zur FDP. Ein Freund nahm sie mit zu einem Treffen. „Dort gefielen mir die Offenheit und die Diskussionskultur“, so die vierfache Mutter. In der Gremienarbeit in Kindergärten und Schulen hatte sie erlebt, dass man mitgestalten kann. So trat sie in die Partei ein, deren Ortsverband sie nun seit 25 Jahren leitet. Berufspolitikerin zu werden, sei für sie nie in Frage gekommen. Lieber blieb sie in ihrem Beruf als Dokumentarin beim Fernsehen und mischte in Sankt Augustin mit. Die Stadt wurde 1969 aus acht Orten gebildet, sie wuchs danach rasant und erhielt ein Zentrum vom Reißbrett. Ein städtisches Wir-Gefühl wollte sich aber nie so recht entwickeln. Stefanie Jung mag sich damit nicht abfinden. Gemeinwesen definiere sie nicht nach bestimmten Ortsteilen. „Ich reagiere allergisch auf jede Form von Kirchturmdenken, ich will Politik für alle machen.“

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