Zeit steht still Das Haus in Lohmar und sein lautloses Eigenleben

LOHMAR · Vor 14 Jahren verlässt eine alte Dame ihr Zuhause in Lohmar. Sie muss ins Altenheim. Ihre Wohnung bleibt unverändert zurück und führt seither ein lautloses Eigenleben. Innenansichten eines Ortes, an dem die Zeit nur vermeintlich stehen geblieben ist.

Verlassen und vergessen: Ein Haus in einer bäuerlich geprägten Gegend von Lohmar. Seit 14 Jahren hat es kein Mensch mehr bewohnt. Außen nagt der Zahn der Zeit, innen breitet sich ein Biotop aus.

Verlassen und vergessen: Ein Haus in einer bäuerlich geprägten Gegend von Lohmar. Seit 14 Jahren hat es kein Mensch mehr bewohnt. Außen nagt der Zahn der Zeit, innen breitet sich ein Biotop aus.

Foto: Volker Lannert

Als Hubertine P. vor 14 Jahren die Haustür hinter sich zuzog, war es ein Abschied für immer. Nie mehr würde sie in ihr Haus zurückkehren. Sie nahm nur mit, was in ihren Koffer passte. Den konnte sie nicht mehr tragen, und auch sie selbst musste gestützt werden.

Hubertine P. stieg in das Auto, das sie ins Altenheim nach Troisdorf brachte. Dort wurde sie immer schwächer, wie das so oft ist, wenn alte Menschen ihre gewohnte Umgebung, ihr Nest verlassen müssen. Drei Jahre später starb sie.

Ihr Haus auf einer Anhöhe in einem ländlichen Ortsteil Lohmars steht heute noch so, wie sie es an jenem Septembertag 2000 verlassen hat. Die Margarine auf dem Küchentisch hat eine braune Haut gebildet, der Pfefferminz-Teebeutel ist mit der Tasse eine inzwischen unlösbare Verbindung eingegangen. Eine Efeuranke hatte die ersten Jahre nur vorsichtig angeklopft, zuletzt aber das Wohnzimmerfenster durchstoßen und sich ins Haus geschlängelt. Dort hat sich das Efeu bald verzweigt und verteilt, soweit das lebensnotwendige Licht dies zuließ. Die Natur steht allzeit bereit, jeden Winkel zu erobern.

September 2000. In Sydney werden die Olympischen Spiele eröffnet. In Prag gehen 20 000 Globalisierungs-Gegner auf die Straße. Der israelische Politiker und spätere Premierminister Ariel Scharon löst mit seinem Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg die Zweite Intifada aus. In einer Volksabstimmung lehnen die Dänen die Einführung des Euro ab. Und Hubertine P. verlässt für immer ihr Zuhause. Ohne dass die Welt davon Notiz genommen hätte.

Der Briefkasten hat inzwischen seine Klappe an Wind und Wetter verloren. Hier kommt schon lange keine Post mehr an. Im Flur stehen zwei Krücken und zwei Gehstöcke in einem Ständer in der Ecke und zeugen davon, warum Hubertine P. ihr Haus für immer verlassen musste. Auf einem Schränkchen nebenan liegt ein Zettel mit drei Telefonnummern und einem unleserlichen Stichwort in altdeutscher Schrift, mit unsicherer, zittriger Hand notiert. Seit 14 Jahren hat die Notiz keine Bedeutung mehr.

Die Erben - entfernte Verwandte der ehemaligen Bewohnerin - haben das Haus vor Jahren verkauft. So wie es da stand. Mit allen Drum und Dran. Am Inhalt des Hauses hatten sie offenbar kein Interesse.

Hubertine P. scheint eine fromme Frau gewesen zu sein. Auf der Kommode im Wohnzimmer steht noch ihr kleiner, privater Hausaltar. Ein gerahmtes Bild von Maria und dem Jesuskind hängt an der Wand. Zwei dicke Kerzen stehen darunter, eine weit abgebrannt, eine unberührt, als Reserve, für den Fall, dass Hubertine P. weiter in ihrem Haus hätte wohnen bleiben können. Und eine Metallkaraffe steht da griffbereit, ehemals für die Aufbewahrung von Weihwasser gedacht. Hier war die Katholikin ganz bei sich - und ihrem Gott.

Gleich neben dem Hausaltar liegt eine Ausgabe der "Neuen Post" vom August 2000. Die Schlagzeile auf dem Titelblatt: "Camilla: Rückfall - dramatische Entwicklung." Im Inneren des Heftes geht es um Thomas Gottschalks glückliches Leben in Amerika und den Tod einer Box-Legende: "Bubi Scholz: Sein Leben voller Glanz und Tragödien."

Im Vorratsraum hängt ein Kalender. Er zeigt den Dezember 1982. Im Wandregal stehen 70 gefüllte Einmachgläser in Reih und Glied. Fein säuberlich und unberührt. Die Hälfte Pflaumen, die andere Hälfte Kirschen. Für schlechte Zeiten.

Rückblende: Maria und Josef V., Hubertines Schwester und Schwager, betrieben auf dem Hof einst Milchwirtschaft. Ihr Fleiß und ihr Kuhbestand sicherten ihnen ein einigermaßen auskömmliches Leben hier oben auf dem Hügel. Harte Arbeit für wenig Lohn. Wenn Anschaffungen zu machen waren, wie etwa 1959 einen Schleppkarren für 1500 Mark, dann vereinbarte Josef mit dem Lieferanten eine Ratenzahlung. Er stotterte den Betrag in zehn Tranchen ab.

Hin und wieder gab es Ärger mit dem Besitzer der Stallungen, die Josef gepachtet hatte. Davon zeugt ein reger Briefwechsel zwischen dem Rheinischen Landwirtschaftsverband und einem Rechtsanwalt der gegnerischen Partei. Es ging um die Instandsetzung eines Speicherfußbodens und die Verwendung von Mist und Jauche.

Am 31. Oktober 1966 starb Josef. Seither wohnten die beiden Schwestern, die verwitwete Maria und die unverheiratet gebliebene Hubertine, alleine in dem Haus. Ab diesem Tag schafften die beiden nicht mehr viel Neues an. Sie begnügten sich damit, Vorhandenes zu pflegen und, wenn nötig, wieder instand zu setzen. Gerade so, wie man es macht, wenn man kein Geld hat. Auch deshalb wirkt das Haus heute so, als sei es nicht erst vor 14 Jahren, sondern schon vor mehr als 40 Jahren verlassen worden.

Maria erhielt eine Witwenrente von 67,10 Mark im Monat. Sie hatte sich ein bisschen mehr erhofft und wollte sich von der Rentenkasse die Soldatenjahre ihres Mannes während des Zweiten Weltkrieges anerkennen lassen. Die ernüchternde Antwort der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz: "Durch den Entlassungsschein ist zwar nachgewiesen, dass Ihr Mann am 24.5.45 entlassen wurde, aber der Beginn der Kriegsdienstzeit fehlt."

Anfang der 80er Jahre ging es Maria immer schlechter. Es war die Zeit, als Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt wurde, von der Wiedervereinigung Deutschlands aber noch niemand zu träumen wagte. Im Dezember 1982 also hörte Maria auf, den Kalender in der Speisekammer zu erneuern. Sie konnte nicht mehr. Sie hatte keine Kraft mehr. Es dauerte dennoch weitere vier Jahre, bis sie ihrem Mann Josef in die Ewigkeit folgte.

Nachdem sie gestorben war, lebte ihre Schwester Hubertine allein. Sie besaß lebenslanges Wohnrecht in dem Haus. Sie zog vom Gästezimmer ins wesentlich größere Schlafzimmer. Dort entfernte sie aus dem Ehebett eine der beiden Matratzen. Die brauchte sie nicht mehr.

Dieser Zustand ist noch heute konserviert, als hätte sie erst gestern aufgeräumt. Das Kopfkissen wirkt wie frisch aufgeschüttelt. Hubertine mochte es nicht, wenn es unordentlich aussah.

Auf dem Schrank stapeln sich die Herz- und Kreislauf-Medikamente, die Schubladen sind voll mit Arzneien, die Vorratskammer ebenso. Die Jägermeister-Flasche auf dem Nachttisch ist leer, wurde aber offenbar zu Hubertines Lebzeiten nur in medizinischen Dosen eingesetzt.

Sparsam war sie. Sehr sparsam. Zuletzt hat sie praktisch nur noch Quark zu sich genommen. Der war billig und nahrhaft. Neben dem Bett stapeln sich dessen leere Plastikpackungen. Im Kleiderschrank biegt sich die Metallstange unter der Last der Kittel und Mäntel. Hubertine besaß nur zwei Modelle, aber die in unterschiedlichen Farben. Und weggeworfen wurde nichts. Sie bevorzugte grüne und blaue Blümchenmuster.

Auf dem Boden liegt noch immer das Hochzeitsfoto von Maria und Josef mit der ganzen Familie. Es ist in Schwarz-Weiß und zeugt von einem glücklichen Tag. Einem der wenigen. Drumherum liegen auf dem Boden vertrocknete Schmetterlinge. Die Tiere fanden nicht mehr hinaus in den vergangenen Jahren, als der Winter zu Ende war und sie den Frühling in der Luft tanzend feiern wollten. Ein Exemplar sitzt wie lebendig auf einer Ecke des Fotos. So widersprüchlich kann sich die Vergänglichkeit tarnen.

So wie Hubertine P. ging es vielen alten Menschen jener Generation, denen noch beide Weltkriege in den Knochen steckten. Vor allem auf dem Land führten sie lange ein entbehrungsreiches, alternativloses Leben. Sie fügten sich in ihr von Gott zugewiesenes Schicksal.

Im Alter bietet sich nur wenig als Stütze an. Die Medikamente und ihr Glaube an die Segnungen der Pharmazie machen den Alltag erträglicher. Die regelmäßigen Besuche beim Arzt, beim Apotheker und in der Kirche schaffen ihnen die einzigen, kurzen, oberflächlichen Sozialkontakte. Ihr Abschied vom Leben beginnt schon viel früher als in den letzten Lebenstagen. Auch Hubertine erlebte diesen schleichenden Tod auf Raten. Wie anders muten dagegen heutige Beschreibungen der Generation 60+an: Senioren werden aktiv alt. Sie treten nach dem Berufsleben ihre dritte Lebensphase an, die ihnen noch viele Möglichkeiten bietet. Sie haben laut Studien der Altersforscher mehrheitlich Vermögen, sind lebenslustig und aktiv. Sie reisen, halten sich fit und betreiben lebenslanges Lernen. Sie sind zufrieden mit ihrem Leben und mit dessen Möglichkeiten. Wurden einstmals 50-Jährige dem alten Eisen zugerechnet, haben etwa Seniorentreffs für Menschen ab 65 heutzutage starke Nachwuchssorgen, weil sich kaum noch jemand freiwillig zu den Senioren rechnet.

Jene Phase des aktiven Alters geht erst zu Ende, wenn der Körper nicht mehr mitspielt. Altersforscher sprechen dann vom vierten Lebensabschnitt. Und das Alter ist feminin, denn zwei von drei 75-Jährigen sind Frauen. Wenn die nicht mehr so recht können, dann setzt langsam aber sicher die Isolierung ein. Einsamkeit ist das Stichwort. Der Aktionsradius wird eingeschränkt. Die Mobilität ist passé. Das erlebte auch Hubertine P. Als ihre Schwester Maria 1986 starb, hatte sie niemanden mehr zum Reden. Sie musste fortan ihren Alltag alleine organisieren. An dem Haus, das ja noch wie in den 60er dastand, konnte sie selbst nichts mehr machen. Davon zeugt auch heute noch der gusseiserne Kohleofen, auf dem die alten Blechtöpfe stehen. Eine Suppenkelle darin verrät: Zuletzt gab es Eintopf. Vielleicht "quer durch den Garten". Die gehäkelten Topflappen hängen noch am Haken, und das Geschirrtuch ist über die Offenumfassung geworfen, als seien damit kürzlich noch Teller und Tassen abgetrocknet worden.

Auf dem hölzernen Fußboden hat sich eine Bahn der Deckentapete abgelegt, die sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts durch die Feuchtigkeit löste. In dem geflochtenen Korb neben dem Ofen liegen noch Holzscheite. Nein, nicht erst vor 14 Jahren, hier ist die Zeit tatsächlich schon vor einem halben Jahrhundert stehengeblieben.

Draußen an der Stalltür hängt noch immer ein Thermometer mit der Aufschrift "Für den Fortschritt in der Melktechnik - Westfalia Systemat". Es ist eine Werbung für ein Milchkühlungssystem. Vor fünf Jahrzehnten angebracht. Deutsche Wertarbeit: Das Thermometer zeigt noch immer die richtige Temperatur. Hubertine hatte seit 1986 nicht mehr viele Möglichkeiten. Sie lebte zurückgezogen, hatte kaum Kontakt zu den Nachbarn. Sie war froh, wenn sie das tun konnte, was sie in ihrem bisherigen Leben so regelmäßig gepflegt hat: Auf den Doktor hören, Obst einmachen und beten.

An vielen Stellen im Haus sind Karten mit Psalmworten deponiert. Über dem Bett hängt ein Holzkreuz. Dahinter klemmt ein vertrockneter Palmzweig. Der ist übrig geblieben vom Kirchbesuch am Palmsonntag des Jahres 2000.

Und an einer Wand hängt ein kleines Bild vom Erzengel Michael, dem Bezwinger des Satans und dem Schutzheiligen der Deutschen. Er ist der Hüter des Tores zum Paradies. Und danach sehnte sich Hubertine nach diesem Leben. Denn ausgelassene Freude war für sie nicht an der Tagesordnung. Einmal unternahm sie eine Dampferfahrt auf dem Rhein. Eine Autogrammkarte des kölschen Sängers Ludwig Sebus dokumentiert den Ausflug in die große, weite Welt. Da war sie einen Moment unbeschwert.

Nach ihrem Tod im Altersheim brachte jemand ihre wenigen Habseligkeiten in ein paar Tüten in das Haus zurück, legte sie aufs Bett und verschwand. Dazu alte Fotos, die Hubertine nicht missen wollte und für die sich jetzt niemand mehr interessiert. Außerdem ein paar Kleidungsstücke. Das ist alles, was von ihrem Leben übrig blieb.

Ein junger Landwirt von nebenan hat das Haus gekauft und so stehen lassen, wie es war. Er spielt mit dem Gedanken, es abzureißen. Renovieren lohnt sich nicht. Aber er hat keine Eile. Vielleicht ist ja auch ein Filmproduzent interessiert. Im Kölner Raum suchen Filmteams oft nach passenden Drehorten. Nach solchen, die eine andere Welt zeigen. Nicht die banale, von allen jederzeit erforschbare Welt von Google und Facebook. Eine künstliche Welt, die immer so tut, als gäbe es keine Einsamkeit.

Vielleicht sucht eines Tages ein Filmteam nach einem Ort, der nach echtem Leben riecht. Einem Leben, für das sich jemand einmal entschieden hat und dem er die Treue hielt. Bis ganz zum Schluss. Vielleicht auch, weil er keine Wahl hatte. So wie Hubertine P.

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„Das Haus“ in Lohmar
Vor vielen Jahren verlassen und seitdem unverändert„Das Haus“ in Lohmar