Ingeborg von Westermann wurde 1945 in Dänemark interniert Den Stacheldraht wird sie nie vergessen

RHEINBACH · Frauen mit Kindern an der Hand, Alte, dazwischen Gespanne - die Bilder der Flüchtlingstrecks, die Anfang 1945 aus Ostpreußen vor der Roten Armee flüchten, gehören zu den bedrückenden Zeugnissen des Zweiten Weltkrieges.

 Das Lager Vestre Allé in Aalborg, wo die Familie von Ingeborg von Westermann drei Jahre interniert war.

Das Lager Vestre Allé in Aalborg, wo die Familie von Ingeborg von Westermann drei Jahre interniert war.

Foto: Axel Vogel

Ebenso die Fahrt tausender Flüchtlinge auf Schiffen durch die mit Minen und U-Booten verseuchte Ostsee.

Bewegt verfolgte anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes die Rheinbacherin Ingeborg von Westermann die Berichterstattung über Flucht und Vertreibung: Die am 3. Juli 1929 in Riga geborene Deutsch-Baltin hatte sich am 8. März 1945 ebenfalls mit ihrer Familie aus dem damaligen Gotenhafen, dem heuten Gdynia, auf den Weg machen müssen; auf einem Schiff. Von Westermann überstand die Passage unbeschadet.

Doch das Schiff brachte ihre Familie nicht ins untergehende Dritte Reich, sondern in das damals von der Wehrmacht noch besetzte Dänemark. Dort wartete keineswegs die Freiheit auf sie, sondern eine drei Jahre währende Haft in dänischen Internierungslagern. Aus Sicht der 86-jährigen Rheinbacherin ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel des Zweiten Weltkriegs.

Genau genommen begann die Flucht von Ingeborg von Westermann, die damals noch Hoppe hieß, bereits sechs Jahre bevor die Roten Armee Anfang 1945 die östlichen Grenzen des Reiches erreichte. "Im Sommer 1939 führte ich noch ein behütetes Leben", sagt sie. Und zwar in Riga, im Kreise ihrer bürgerlichen Familie.

Doch dann sickert die Nachricht durch: Hitler und Stalin haben sich in dem berüchtigten Nicht-Angriffspakt Osteuropa aufgeteilt. Keinen Zweifel gab es damals für alle Deutsch-Balten, so erzählt sie, "dass wir weg mussten: Bald würden die Bolschewiken kommen". Für ihre Landsleute sei das eine Katastrophe gewesen: "Nach dem Ersten Weltkrieg hatten viele gegen die Rote Armee gekämpft", erinnert sie sich. Sicherlich würde die sich rächen wollen.

So ermöglichte das Deutsche Reich den Deutsch-Balten die Umsiedlung: "Wenn man so will waren wir die ersten Flüchtlinge des Krieges", sagt von Westermann. Die damals Zehnjährige schiffte sich mit Ihrer Familie am 9. Dezember 1939 Richtung Pommern ein und fand nach einem Umweg über Kolberg 1943 im Seeort Gotenhafen ein neues Zuhause.

Bis der Krieg Anfang 1945 näher rückte. Nacht für Nacht trafen damals Trecks in Gotenhafen ein, mit Flüchtlingen, die Unvorstellbares erlebt hatten. Sie erinnert sich an eine Frau die ihr Neugeborenes im Kinderwagen durch den Schnee geschoben hatte, als sie die Stadt erreicht hatte, war das Kind tot: Erfroren in der durchnässten Windel. Dann ist auch Gotenhafen nicht mehr zu halten. Bevor der Vater zum Volkssturm eingezogen wurde, hatte er für seine Familie eine Passage auf dem Frachtschiff "Kanonier" ergattert, das Tickt hat seine Tochter immer noch.

Mit Schwester und Mutter, den Großeltern sowie der Tante samt ihrer zwei Kinder ging von Westermann auf der Kanonier am 8. März 1945 von Gotenhafen aus auf Fahrt. Zugelassen für 3000 Passagiere drängten sich mehr als 7000 Menschen an Bord, so von Westermann: "Darunter viele Kinder ohne Mütter und Volksturmjungen. Es war grauenvoll."

Auch auf See konnte sich die Passiere keineswegs sicher fühlen. Zwei Mal gab es Torpedoalarm. Trotzdem verlief die zweitägige Reise ohne Zwischenfälle. Groß war das Erstaunen als ein unbekannter Hafen in Sicht kam: "Wir dachten alle, es ging nach Deutschland", schilderte sie die Situation. Aber die Kanonier war in Kopenhagen vor Anker gegangen.

Zur Sorge gab es zunächst keinen Grund: Dänemark war nach wie vor besetzt, daher übernahm die Wehrmacht die Versorgung der Flüchtlinge. "Das war toll, keine Fliegerangriffe mehr, keine Bomben", so von Westermann: "Auch an eine solche Milch waren wir nicht mehr gewöhnt." Nach der Unterbringung in einer Schule ging es mit "53 Flüchtlingen und einem Kinderwagen" in Viehwaggons über den Belt mit einer Zwischenstation am Skagerrak in das Flüchtlingslager Svankjäer.

Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 änderte sich die Situation der deutschen Flüchtlinge schlagartig: "Die Dänen hatten festgestellt, dass wir baltischer Herkunft waren", so von Westermann. Die deutschen Einbürgerungsurkunden seien damals nicht anerkannt worden. Daher wurden die Flüchtlinge zu "Displaced Persons" erklärt und "fortan durften wir das Lager nicht mehr verlassen". Es wurde Stacheldraht um das Lager gezogen, bewaffnete Wachposten der Dänen zogen auf. Ein Lichtblick war: Ihr Vater und Onkel hatten den Krieg überstanden und ebenfalls den Weg nach Dänemark geschafft.

Die Familie wurde dann ins Lager Østrup, eines von vier Flüchtlingslagern der Stadt Aalborg gebracht, wo bereits viele Displaced Persons aus dem Memelland lebten. Dann die Erleichterung: "Die Dänen hatte doch herausgefunden, dass wir Deutsche waren, es fühlte sich großartig an." Hoffnung auf eine Ausreise keimte auf.

Zunächst musste die Familie aber im Herbst 1945 wieder in ein anderes Lager in Aalborg umziehen, durfte sich dieses aber aussuchen. Die Wahl fiel auf das Lagergelände an der Straße Vestre Allé, wo 3600 Flüchtlinge untergebracht waren. Aus der baldigen Rückreise wurde nichts: "Die Verwaltungen der Besatzungszonen in Deutschland weigerten sich neue Flüchtlinge aufzunehmen", erklärt Ingeborg von Westermann.

Damit war bis auf weiteres klar: "Wir blieben zwar in Sicherheit, aber eingesperrt", erzählt sie. Die Dänen behandelten die Flüchtlinge alles andere als fürsorglich, das Schimpfwort "deutsches Schwein" hörte sie oft: "Wir waren ein lästiges Übel für die Dänen und wurden versorgt, mehr nicht", resümiert die Rheinbacherin, die dafür Verständnis aufbringt: " Wir waren Landsleute der ehemaligen Besatzer."

Bis zum Juni 1948 blieb die Baracke 6a in Vestre Allé ihr erzwungenes Zuhause, 16 Personen untergebracht auf 32 Quadratmetern. Die zehnköpfige Familie lebte mit noch sechs weiteren Flüchtlingen zusammen. In ein und derselben Schüssel wuschen sie sich - und nutzen diese zum Essen holen. Zwar musste niemand hungern, aber vier Mal in der Woche gab es Gerstengrütze. Was für Westermann schlimmer wog: "Es gab in dem Lager keinen Ort, wo man allein sein konnte. Selbst das Klo musste man teilen."

Im Juni 1948 durften alle aufgrund einer fingierten "Familienzusammenführung" endlich ausreisen: Ehemalige Mitinternierte, die inzwischen in der französischen Besatzungszone untergekommen waren, hatten sich als ihre "Verwandten" ausgeben. Drei Tage vor der Währungsreform erreicht die Familie ein Flüchtlingslager bei Rottenburg am Neckar. Von Westermann heiratete 1953 einen Berufssoldaten, Ende der 60er Jahre kauft die fünfköpfige Familie ein Haus in Rheinbach.

Trotz eines erfüllten Lebens sagt Ingeborg von Westermann: "Den Stacheldraht in den dänischen Lagern werde ich nie vergessen." Das Gefühl des Eingesperrtseins, das die spätere Grafikerin in Zeichnungen festhielt, war vielleicht der Grund dafür, dass sie sich seit vielen Jahren in der Gefängnisarbeit engagiert. Für den Verein "Soziale Eingliederung" betreut sie Insassen der JVA in Rheinbach. Dort berichten ihr Strafgefangene von ihren Schicksalen: Geflohen vor einem Krieg übers Meer, gestrandet in einem fremden Land, wo sie in Unterkünften lebten und auf eine bessere Zukunft hofften. Irgendwie, so von Westermann, "kam mir das bekannt vor".

Interniert in Dänemark

Historiker gehen davon aus, dass zwischen Februar und Mai 1945 rund 250.000 deutsche Flüchtlinge aus dem untergehenden Dritten Reich über die Ostsee nach Dänemark entkommen konnten. Größenteils handelte es sich dabei um Alte, Frauen und Kinder, ein Drittel war unter 15 Jahren. Untergebracht wurden die Flüchtlinge in über hundert Lagern, das größte war das Lager Østrup an der Westküste Jütlands, das mehr als 37.000 Internierte zählte. Ein dunkles Kapitel bleibt, dass die Ernährung und medizinische Versorgung der Flüchtlinge anfangs schlecht war, allein 1945 starben 13.000 Menschen, darunter 7000 Kinder unter fünf Jahren.

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