Medizinverbrechen im Dritten Reich Rhein-Sieg-Kreis lässt Verbrechen der Nazis aufarbeiten

Rhein-Sieg-Kreis · Unter den angeblich "Kranken", die in der Tötungsanstalt in Hadamar ums Leben kamen, waren insgesamt 626 Personen aus dem Rhein-Sieg-Kreis. Dieser lässt jetzt eine Lokalstudie erstellen, die aufzeigt, wie die Nationalsozialisten den Massenmord organisierten.

Allein in der Tötungsanstalt in Hadamar wurden in der ersten Phase zwischen Januar und August 1941 insgesamt 10 072 angeblich „kranke“ Menschen und in der Phase zwischen 1942 und 1945 weitere 5000 Menschen ermordet. Hierunter befanden sich auch 626 Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem alten Landkreis Bonn und dem Sieg-Kreis. Die meisten waren Patienten der Bonner Provinzialanstalt, der heutigen Rheinischen Landesklinik. Sie wurden in grauen Bussen auf Befehl der Euthanasiezentrale „T4“ (Zentraldienststelle Tiergartenstraße 4 in Berlin) über die Landesklinik Andernach nach Hadamar transportiert.

Beim Rhein-Sieg-Kreis wird die Geschichte jetzt aufgearbeitet. Das Projekt „Erforschung und Dokumentation der NS-Medizinverbrechen im Rhein-Sieg-Kreis“ geht auf einen politischen Antrag vom März 2015 zurück. CDU, SPD, Grüne und FDP hatten damals eine wissenschaftliche Lokalstudie gefordert, die erste dieser Art in Deutschland. Nach einem mehrstufigen Vergabeverfahren vergab die Verwaltung den Auftrag im April 2016 an ein bei der Universität Münster angesiedeltes Projektteam.

Start der Studie am 1. November

Der offizielle Start der Studie war zunächst für das zweite Halbjahr 2016 geplant. Da bei der beabsichtigten Planung jedoch rund die Hälfte der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel in Höhe von 120 000 Euro für Verwaltungskosten sowie Umsatzsteuer hätte ausgegeben werden müssen und dadurch das Forschungsziel gefährdet worden wäre, schloss der Kreis stattdessen kürzlich eine Kooperationsvereinbarung mit dem Landschaftsverband Rheinland, der auch die Hälfte der Kosten trägt. Start der Studie soll nun der 1. November 2017 sein. Projektleiter ist Helmut Rönz (LVR). An der Studie arbeiten außerdem Professor Hans-Georg Hofer und Ralf Forsbach, beide von der Uni Münster, mit. Hauptbearbeiter ist der in Königswinter aufgewachsene Ansgar Sebastian Klein.

Dem Kreis liegen über 1000 Akten aus dem alten Landkreis Bonn vor, die bereits digitalisiert sind, und mehr als 1200 Akten aus dem alten Siegkreis, die zurzeit noch erfasst werden. „Wir haben das Glück, dass die Überlieferungssituation im Kreis sehr positiv ist. Anderswo haben oft die Verantwortlichen dafür gesorgt, dass die alten Akten verschwunden sind“, sagt Kreisarchivarin Claudia Arndt. Menschen wie Wilbert Fuhr, die Familienmitglieder durch die Verbrechen der Nazis verloren haben und heute ihre Mitarbeit bei der Studie anbieten, sind dabei die Ausnahme.

Es geht auch um Täter und Strukturen

„Es wäre schön, wenn die Betroffenen keine Berührungsängste hätten. Das ist aber in den Familien zum Teil immer noch ein Tabuthema, anders als zum Beispiel bei jüdischen Opfern“, sagt Arndt. So gebe es auch kaum Fotos von Opfern. Bei der geplanten Dokumentation dieses düsteren Kapitels der deutschen Geschichte wäre dies aber hilfreich.

„Wir versprechen uns von der ersten Lokalstudie auf Kreisebene sehr viel“, sagt der zuständige Dezernent Thomas Wagner. Es gehe dabei nicht nur um die Opfer, sondern auch um die Täter und die Strukturen, die die Sterilisation von bis zu 400 000 Menschen und die Tötung von 70 000 Menschen ermöglicht hätten.

„Demokratie funktioniert nicht ohne Verwaltung, aber auch Diktatur funktioniert nicht ohne Verwaltung. Es war das perfide System des Nationalsozialismus, dass die Verantwortung auf viele Stationen verteilt wurde. Physikalisch haben dabei nur ganz wenige getötet“, sagt Wagner. Ganz viele hätten dabei aber mitgewirkt – das gelte auch für den Rhein-Sieg-Kreis.

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