Angebot im Rhein-Sieg-Kreis Anonyme Spurensicherung hilft Vergewaltigungsopfern

Rhein-Sieg-Kreis · Opfer von Sexualstraftaten befinden sich einer psychisch und physisch schwierigen Situation. Die Anonyme Spurensicherung ermöglichst es ihnen, die Entscheidung, ob sie Anzeige erstatten, nicht sofort treffen zu müssen.

 Auch Jahre nach einer Tat können die gesicherten Spuren angefordert und vor Gericht verwendet werden.

Auch Jahre nach einer Tat können die gesicherten Spuren angefordert und vor Gericht verwendet werden.

Foto: picture-alliance / dpa

Es ist einfach ein Koffer. Er steht in vielen Krankenhäusern in Bonn und der Region. Ein Koffer, der besser nie gebraucht würde. Aber der gebraucht wird. Er enthält alles, was nötig ist, um Spuren nach einer sexuellen Straftat professionell zu sichern. Und er enthält alles, was es braucht, um dem Opfer jegliche Unterstützung zukommen zu lassen, die es braucht. Ein Koffer, der es den Betroffenen erlaubt, zu entscheiden, ob sie Anzeige gegen den Täter erstatten wollen. Jetzt. Später. Nie. Aber wenn – dann gibt es zehn Jahre lang Beweise, die vor Gericht verwertet werden können.

Für viele ist die Notwendigkeit des Koffers zunächst unverständlich. Man wurde vergewaltigt, erstattet Anzeige. Die Beweise, Verletzungen und andere Spuren, werden gesichert, der Täter angeklagt und dann verurteilt. Doch die Realität sieht anders aus. Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch passieren meist im privaten Umfeld. Selten ist es der „böse Mann“ hinter einem Busch, der der Täter ist. Viel öfter kommen sie aus dem Bekanntenkreis, der Familie, aus dem engsten Umfeld. Vergewaltigungen sind traumatisierend. Und sie sind zum Teil immer noch noch stigmatisierend. „War ich selbst schuld?“, ist daher nicht selten die Frage, die Opfer sich anschließend stellen. War ich zu betrunken, zu lässig gekleidet? Habe ich zu sehr geflirtet, mich zu wenig gewehrt? Viele Opfer sehen sich in dieser Situation nicht in der Lage zu entscheiden, ob sie Anzeige erstatten sollen oder nicht.

Angebot besteht seit 2006

Genau da setzt die Anonyme Spurensicherung nach Sexualstraftaten (ASS) an. 2006 ging das Angebot an den Start, davor lagen zwei Jahre intensiver Vorbereitung, wie sich Conny Schulte von der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt erinnert. „Wir hatten damals verstärkt Anfragen von Ärzten bekommen, wie sie sich verhalten sollen.“ Denn bei Fällen, in denen keine Anzeige erstattet wird, gibt es keine Regelung zum Umgang mit Beweisen.

Die Vertreter des Opferschutznetzwerks, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und das Institut für Rechtsmedizin suchten gemeinsam nach dem richtigen Weg. Denn den Organisatoren war wichtig, dass die gesicherten Spuren und Befunde anschließend auch gerichtlich verwertet werden können; das hatten ähnliche Projekte bis dahin nicht sicherstellen können, Knackpunkte waren meist der richtige Transport und die Lagerung. Deswegen war die Bereitschaft der Bonner Rechtsmedizin, die Spuren entsprechend für zehn Jahre in ihrem Haus zu lagern, eine entscheidende Wende.

Kooperation mit Krankenhäusern in der Region

Nicht minder wichtig die Kooperation mit den neun Krankenhäusern und die Bereitschaft der Ärzte, an dem Angebot mitzuwirken. „Nur so kann eine 24-Stunden-Erreichbarkeit sichergestellt werden“, so Schulte. Die Ärzte und Pfleger in der Gynäkologie werden speziell geschult, nicht nur, um die Spurensicherung richtig durchzuführen, sondern auch im Umgang mit den traumatisierten Patienten, wie Diplom-Psychologin Dr. Maria Mensching vom Marien-Hospital und Mitglied des Organisationsteams erläutert. Der Arzt sichere nicht nur die Spuren, mache Fotos von Verletzungen und dokumentiere die Aussage des Opfers, „spontan und möglichst wörtlich“, gegebenenfalls werden Rückfragen gestellt. Aber: „Bei Kindern werden keine Fragen gestellt.“

„Die Anonyme Spurensicherung ersetzt aber nicht die Anzeige“, betont Irmgard Küsters, Opferschutzbeauftragte beim Polizeipräsidium Bonn und Mitglied im Orga-Team. Doch sollte sich der Betroffene innerhalb von zehn Jahren doch für eine Anzeige entscheiden, liegen die damals gesammelten Beweise bereit. Auch bei der Polizei sind die zuständigen Kollegen entsprechend geschult, zudem gibt es die Möglichkeit, sich von ausgebildeten Prozessbegleiterinnen begleiten zu lassen. „Wenn Betroffene Anzeige erstatten, können wir anhand der Chiffrenummer die Beweise anfordern und ein Ermittlungsverfahren einleiten.“ Entbindet das Opfer zudem den Arzt von der Schweigepflicht, kann dieser als sachverständiger Zeuge im Prozess aussagen.

181 Opfer nutzten das Angebot

Seit 2006 haben 181 Opfer von dem Angebot Gebrauch gemacht, anonym Spuren sichern zu lassen; 19 davon wurden abgerufen. Das erscheint auf den ersten Blick wenig. Aber, sagt Schulte, „eine Vergewaltigung ist immer ein Kontrollverlust“. Es sei wichtig, dass das Opfer die Kontrolle zurückbekomme. „Allein das Wissen, dass man Anzeige erstatten könnte und dann auch Beweise vorlegen kann, hilft vielen.“ Auch falle es den Opfern oft leichter, sich einem der Schweigepflicht unterliegenden Arzt zu offenbaren. Und: Der Betroffene habe es selbst in der Hand, was passiere. Es gebe sogar Fälle, in denen Opfer zur Anonymen Spurensicherung kämen, dann aber doch den Arzt um eine direkte Kontaktaufnahme mit der Polizei bäten.

Das Bonner Projekt hat längst Schule gemacht, nicht nur in NRW, sondern auch darüber hinaus. Nun, nach elf Jahren Pionierarbeit, steht das Verfahren kurz vor einer landesweiten Umsetzung in NRW. „Damit müssen aber auch bislang ungeklärte Fragen geklärt werden, wie die Abrechnung der ärztlichen Leistungen, der Laboruntersuchungen oder wer die Spurensicherungssets zur Verfügung stellt. „Das Landesgesundheitsministerium hat noch für dieses Jahr Lösungen angekündigt“, sagt Schulte. Mit der landesweiten Umsetzung in NRW wäre ein großer Schritt getan. Und vielleicht wird dann irgendwann in der Gynäkologie einer jeden Klinik in Deutschland ein Koffer stehen.

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