Anlage in Aegidienberg Retscheider Hof hilft in Not geratenen Wildtieren

Siebengebirge · Der Retscheider Hof in Aegidienberg nimmt in Not geratene Wildtiere auf. Derzeit sind es um die 70 Tiere, die Nils Michael Becker und Stefanie Huck versorgen. Ein Besuch auf der Hofanlage.

Etwas übellaunig läuft die Hängebauchschweinedame durch den Stall, über den Hof und immer Nils Michael Becker hinterher. Henriette ist auf Diät. Und daher stets in der Hoffnung, der 47-Jährige könnte vielleicht doch etwas Fressbares in seiner Jackentasche haben. Hat er aber nicht.

„Laufen“ trifft zudem nicht ganz Henriettes Fortbewegungsstil. Sie watschelt. „Jäger haben sie in einem Graben bei Eudenbach gefunden“, sagt Becker. „Sie war viel zu dick, hatte so lange Klauen, dass sie kaum gehen konnte, und Arthrose in der Hüfte.“

Doch wohin mit einem Hängebauchschwein? Schließlich sind Tierheime für Nutztiere nicht zuständig, sagt Becker. Und so standen Henriettes Retter spätabends vor der Tür des Retscheider Hofs in Aegidienberg.

Wildtiere auf dem Retscheider Hof
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Wildtiere auf dem Retscheider Hof

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2009 haben Becker und seine Lebensgefährtin Stefanie Huck die Hofanlage am Ortsrand von Aegidienberg übernommen. Sechs Hektar Hof, Feld und Wiese, bewusst angelegte Brachen, ein Bienenlehrstand – ein privates Flora- und Fauna-Habitat im Siebengebirge.

70 Tiere leben auf dem Hof

Doch im Mittelpunkt stehen die Tiere. Ehrenamtlich kümmern sich die beiden um verwaiste oder in Not geratene Wildtiere – und manchmal auch um Nutztiere wie Henriette. „Steffi hat ein Händchen dafür, Patienten wieder hochzupäppeln“, sagt Becker, der selbst als Rechtsanwalt arbeitet und seine Partnerin in der freien Zeit unterstützt.

Die 48-Jährige versorgt die Tiere auf dem Hof, füttert, macht die Boxen sauber, bestellt Futter, gibt den Wildkatzenwelpen die Flasche alle zwei bis drei Stunden – auch nachts. In der Öffentlichkeit stehen möchte sie nicht. „Steffi kümmert sich mit Leib und Seele um Wildtiere“, sagt Becker.

Im Stall riecht es durchdringend nach Tier. Neben Henriettes Box sind zwei Dachse eingezogen. Eine Warzenente spaziert über den Hof, Seidenhühner huschen in die nächste Ecke, einige Ponys stehen auf dem Feld. Zu jedem Tier kann Becker eine Geschichte erzählen.

Rund 70 Tiere leben derzeit auf dem Hof, dabei ist eigentlich „Nebensaison“: „Unser Jahr beginnt mit den Feldhasen und Eichhörnchen, es endet mit den Igeln“, sagt Becker. „Dazwischen kommen die Füchse. Früher war es ab Herbst deutlich ruhiger, aber mittlerweile startet die Jungtiersaison immer früher und hört später wieder auf.“

Aus einem Umkreis von bis zu 400 Kilometern bringen die Menschen tags wie nachts Wildtiere nach Aegidienberg, in der Hauptsache Raubsäuger wie Füchse, Steinmarder und Dachse. Mund-zu-Mund-Propaganda habe den Hof bei Jägern, den Forst- und Veterinärämtern bekannt gemacht, sozusagen als letzten Rettungsanker.

Ziel der Aegidienberger ist es dabei immer, den Tieren wieder ein Leben in freier Natur zu ermöglichen. Wie den Iltissen: „Steffi ist spezialisiert auf ihre Aufzucht und Erforschung“, sagt Becker. Häufig hielten sich Menschen die Tiere zu Hause und seien schließlich völlig überfordert. Nicht selten auch finanziell. „Iltisse brauchen Frischfutter, das ist etwas anderes, als eine Dose Hundefutter zu kaufen“, sagt Becker, und es klingt alles andere als verständnisvoll. „Wenn es dann nicht mehr geht, bringen sie die Tiere zu uns.“ Im besten Fall.

Bundesweites Netzwerk

Überhaupt: das Geld. 2014 haben Huck und Becker den Verein „Retscheider Hof“ gegründet. Über Spenden finanzieren sie die Unterbringung, medizinische Versorgung und das Futter. Hinzu kommt die Unterstützung ehrenamtlicher Helfer und Vereine wie die des Tierschutzvereins Siebengebirge, oder die von Veterinären, die kostenlos operieren. Das Netzwerk ist über fast ganz Deutschland gespannt. „Neulich“, erzählt Becker, „ist unsere riesige Tiefkühltruhe über Nacht kaputtgegangen.“ Randvoll mit Futter. „Wir haben über Facebook einen Aufruf gestartet und hatten binnen zwei Stunden eine neue, die uns jemand einfach so geschenkt hat. Das hat uns tief beeindruckt.“

Ziemlich hungrig seien auch die Wildkatzen, von denen sie in diesem Jahr extrem viele auf dem Hof hätten. Süß sehen die Welpen aus, jungen Katzen zum Verwechseln ähnlich. „Das führt dazu, dass Menschen, die ein Junges entdecken, es zunächst einmal mit nach Hause nehmen“, sagt Becker. „Und dann merken sie, dass da irgendwas nicht stimmt.“ Extrem infektionsanfällig seien die Tiere, aufwendig aufzuziehen – und aggressiv: „Wenn wir gerufen werden, um eine Wildkatze einzufangen, ziehe ich Schutzhandschuhe an“, sagt Becker. „Eine Wildkatze hört nie auf, sich zu wehren.“

"Ryan" ist die größte Nervensäge

Die Tiere auf das Leben in der Natur vorzubereiten, sei eine Herausforderung. Wichtig sei es dabei auch, den Kontakt zu den Menschen möglichst auf ein Minimum zu beschränken. „Die Tiere dürfen sich nicht an uns gewöhnen.“ Das gelingt meistens, aber nicht immer. Und dann erzählt er noch die Geschichte von Ryan, der afrikanischen Zwergziege. Spaziergänger hatten den kleinen, gerade geborenen Kerl an einem Augusttag auf einer Wiese bei Honnef gefunden. „Seine Herde war weg, und er lag den ganzen Tag in der prallen Sonne.“

Als ihn die Leute zum Retscheider Hof brachten, sei er ein Todeskandidat gewesen. Zu schlapp, um zu trinken, schwankte er über Wochen zwischen Leben und Tod. „Ryan hat uns richtig Nerven und Substanz gekostet. Heute ist er die größte Nervensäge“, sagt Becker und grinst. „Mit all dem hier retten wir nicht die Welt. Aber wir leisten einen kleinen Beitrag, bedrohte Populationen zu stärken.“ Und dann zieht er doch noch einen Apfel für Henriette aus der Jackentasche.

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