Der Fall Jens Bleck Abgründe hinter glitzernder Fassade

BONN · Die jüngste Veröffentlichung im General-Anzeiger zum mysteriösen Tod des Bad Godesberger Studenten Jens Bleck hat in Sabine Schütz (Name geändert) aus Beuel schlimme Erinnerungen geweckt.

An eine Nacht im Oktober 2012 - 13 Monate vor Jens Blecks Tod. Ihr Sohn Tobias, damals 22 Jahre alt, besuchte nach einer privaten Geburtstagsfeier mit vier Freunden die Bad Honnefer Diskothek Rheinsubstanz. Zum ersten Mal. Und zum letzten Mal.

Spätestens mit der letzten Bahn wolle er den Heimweg antreten, hatte der junge Mann seiner Mutter versprochen. Schon den ganzen Abend war Sabine Schütz von großer Unruhe erfasst. "Ich gebe zu, ich bin eine überängstliche Mutter." Zwei Stunden nach Mitternacht gab sie ihrer Sorge nach und wählte die Handynummer ihres Sohnes. Eine Frauenstimme meldete sich: "Ich bin Ärztin im Bad Honnefer Krankenhaus. Ihr Sohn liegt hier. Er ist nicht bei Bewusstsein."

Die Eltern fuhren augenblicklich nach Bad Honnef. "Tobias war in einem fürchterlichen Zustand", erinnert sich Sabine Schütz. "Wir hatten Sorge, dass er sein Augenlicht verliert." Markus, einer seiner Freunde, war ebenfalls per Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden. Nasenbeinbruch.

Die ursprüngliche Fünfergruppe hatte sich im Trubel der gut besuchten Diskothek aus den Augen verloren. Nur Tobias und Markus hockten in einer Sitzgruppe abseits der Tanzfläche, hörten Musik, tranken etwas - als sie plötzlich von Türstehern gepackt, nach draußen gezerrt und vor der Eingangstür brutal zusammengeschlagen wurden.

Seelische Wunden sitzen tief

Tobias lag längst am Boden, als ihm noch mehrfach ins Gesicht getreten wurde. Der Junge wurde ohnmächtig, ihm fehlt jede Erinnerung. Dann gab es zufällig einen Feuer-Fehlalarm in der Diskothek, Polizei und Rettungskräfte rasten herbei. "Vielleicht hat dieser Alarm meinem Sohn das Leben gerettet", sagt Sabine Schütz. "Denn dadurch ließen die Schläger von ihm und seinem Freund ab."

Das Krankenhaus meldet solche Vorfälle automatisch der Polizei. "Die Ärztin sagte uns damals, fast jedes Wochenende würden Besucher der Diskothek eingeliefert."

Die Eltern wurden von der Polizei vorgeladen. "Der Beamte sagte uns, an jenem Abend habe es in der Rheinsubstanz ein Treffen der Hells Angels mit den Bandidos gegeben. Als sei das Treffen konkurrierender Rockergruppen ein Grund, meinen Sohn zusammenzuschlagen." Sabine Schütz hörte nie wieder etwas von Polizei oder Staatsanwaltschaft. Ihr Sohn konnte das Krankenhaus nach drei Tagen verlassen. Ohne bleibende Schäden physischer Art. Aber die seelische Wunde sitzt tief. "Ein Jahr lang ist er nicht mehr ausgegangen."

Nach der Berichterstattung am vergangenen Montag meldeten sich Dutzende Leser bei unserer Redaktion. Vielen war es ein Bedürfnis, ihr Mitgefühl und ihre Solidarität zu Jens Blecks Eltern zu zeigen, ferner ihrer Empörung darüber Ausdruck zu verleihen, dass die Bonner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren eingestellt hat. Andere wie Sabine Schütz schilderten Erlebnisse, die das glitzernde Ambiente der (seit Mai geschlossenen) Diskothek deutlich ins Zwielicht rücken.

So wie die heute 25-jährige Studentin Sandra Rudolph (Name geändert): "Immer wieder gab es dort Ereignisse mit K.o.-Tropfen. Einmal fand ich meine Freundin auf der Toilette. Sie lag völlig apathisch in ihrem Erbrochenen. Dabei hatte sie nur einen einzigen Cocktail getrunken - den ihr zuvor ein Mann spendiert hatte." Sandra Rudolph besitzt sogar ein Foto, das zeigt, wie ihrer Freundin der Cocktail gereicht wird und sie deshalb völlig erstaunt guckt.

Fall wirft weiter Fragen auf

"Uns interessieren ausschließlich Zeugen, die das unmittelbare Geschehen auf der Brücke in jener Nacht beobachtet haben", sagte Oberstaatsanwalt Robin Faßbender, Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen, vergangene Woche dem General-Anzeiger. Das mag juristisch korrekt sein. Aus kriminalistischer Sicht klingt das jedoch merkwürdig.

Wieso soll das Vorgeschehen des 8./9. November 2013 in der Diskothek keine Rolle spielen für das, was später auf der Brücke geschah? Worüber wollte sich Jens Bleck bei der Geschäftsführung der Rheinsubstanz beschweren? Was hatte der 19-jährige Jurastudent mit dem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn in der Diskothek beobachtet; was hat ihn so empört? Gab es den ersten Kontakt mit dem Trio von der Brücke tatsächlich erst nach dem Verlassen der Rheinsubstanz - oder schon zuvor in der Disco? Wovor hatte Jens Bleck solche Angst, dass er die Taxifahrer und zwei Streifenpolizisten (vergeblich) um Hilfe bat?

Die Bad Honnefer Diskothek ist zwar seit Mai geschlossen. Aber die Website im Internet und auch die Facebook-Seite der Rheinsubstanz existieren noch. Auf dieser Facebook-Seite finden sich bergeweise Fotos von den Party-Wochenenden. Nur aus der Nacht des 8./9. November nicht. Kein einziges Foto. Und die drei Menschen von der Brücke, bis dahin Stammgäste der Diskothek, wurden seit jener Nacht im November 2013 nie wieder in der Rheinsubstanz gesehen.

K.o.-Tropfen lassen sich sechs Stunden lang im Blut und zwölf Stunden lang im Urin des Opfers nachweisen. Jens Blecks ehemaliger Schulfreund, der am nächsten Tag über einen totalen Filmriss klagte, wurde erst nach rund 24 Stunden getestet. Zu spät.

Augenzeuge berichtet von Gewalt-Exzess

Zu den Lesern, die sich diese Woche beim General-Anzeiger meldeten, gehört auch Sebastian Wolff (40). Der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Honnefer Stadtrat und Vorsitzende des CDU-Stadtverbandes war im Februar 2010 wie viele andere Kommunalpolitiker zur feierlichen Eröffnung der Rheinsubstanz geladen. "Eine schöne, seriöse Veranstaltung. Wir waren ja damals froh, dass unser ehemaliges Hallenbad doch noch eine sinnvolle Nutzung erfahren hatte, und dass es nun auch für die Studenten an unserer Fachhochschule ein Freizeitangebot gab, damit die jungen Leute nicht immer an Wochenenden nach Bonn oder nach Köln flüchten müssen."

Einige Monate später, am späten Abend des 3. Dezember 2010, besuchte Wolff als Privatmensch mit zwei guten Bekannten ein zweites Mal die Rheinsubstanz: "Aus einer Laune heraus; kommt, lasst uns doch da noch was trinken - auch wenn wir ja eigentlich schon zu alt sind für die Disco."

Kaum hatten sie ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben, wurden sie wie aus dem Nichts Augenzeugen eines Gewalt-Exzesses im Kassenvorraum: Mehrere Türsteher prügelten mit sogenannten Teleskop-Schlagstöcken, auch "Totschläger" genannt, auf zwei junge, blutüberströmte Gäste ein. Die riefen den Augenzeugen zu: "Bleibt bei uns, die schlagen uns tot."

Später wurde Wolff von der Polizei als Zeuge geladen. "Man zeigte mir Ausschnitte aus dem Video der Überwachungskamera, aber da war das eigentliche Gemetzel gar nicht zu sehen. Und man fragte mich, wer von den Türstehern denn beteiligt gewesen sei. Das konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Alles ging so schnell und war in dem Moment emotional so aufwühlend, außerdem sehen die alle gleich aus." Von einem Gerichtsverfahren hat Wolff nichts erfahren. Und die Diskothek hat er nie wieder besucht. Aber der Kommunalpolitiker sah sich in der Pflicht, die Geschäftsführung anzurufen und zu informieren: "Ich unterlag dem Irrglauben, man hätte dort Einfluss auf die Türsteher."

Welche Rolle spielen Rockergruppen?

Man kannte das bislang nur aus Städten wie Hamburg: der Machtkampf unter konkurrierenden Rockergruppen um die Türen, die lukrative Folgegeschäfte versprechen. Wer die Tür kontrolliert, der kontrolliert zum Beispiel auch, wer Drogen verkaufen oder Frauen zur Prostitution anwerben darf. Inzwischen ist nicht mehr klar zu erkennen, ob sich Veranstalter ihre Türsteher aussuchen - oder umgekehrt die Türsteher die Veranstaltungen.

Ein Thema unterhalb der Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung, das aber nach Aussagen von Insidern längst den beschaulichen Bonner Raum erreicht hat. Davon zeugt möglicherweise auch die Schießerei am 27. März 2015 in der Bonner Innenstadt, als Konstantin S., genannt "Costa", Präsident der "Bruderschaft Fist Fighter", niedergestreckt wurde. Die Fist Fighter haben lange Zeit auch die Tür der Rheinsubstanz kontrolliert.

In der Nacht, als Tobias Schütz ins Krankenhaus kam, fuhren die Eltern anschließend zur Rheinsubstanz. Der erboste Vater wollte die Türsteher zur Rede stellen. Die Situation drohte zu eskalieren - bis ein Herr auftauchte, sich als "Costa" und Hausmeister der Diskothek vorstellte und charmant lächelnd versicherte, die Türsteher hätten rein gar nichts damit zu tun. Sabine Schütz zog ihren Mann weg: "Mir reichte einer unserer Familie im Krankenhaus." Vermutlich war es gesünder, sich nicht mit einem Hausmeister anzulegen, der das Privileg genoss, seine Luxuskarosse auf dem für die Geschäftsführung der Rheinsubstanz reservierten Parkplatz abzustellen.

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