Rhabarberschlitten in Siegburg Herbert Lütz ist der letzte noch lebende Fahrer

SIEGBURG · Wer heute über die Siegburger Kaiserstraße geht, der bemerkt sie hier und da an alten Häuserfassaden. Da hängen verschnörkelte Rosetten, die offensichtlich keinerlei Funktion haben. Und doch sind sie bedeutend.

 Die Kleinbahn 1958 am Siegburger Markt. Rechts: Begegnung zweier Züge bei Eschmar. Repro: Arndt

Die Kleinbahn 1958 am Siegburger Markt. Rechts: Begegnung zweier Züge bei Eschmar. Repro: Arndt

Einst war daran die Oberleitung der Kleinbahn Siegburg-Zündorf befestigt, im Volksmund "Rhabarberschlitten" genannt. Von 1914 bis 1963 in Betrieb, ist diese Straßenbahn ein Thema beim Zeitzeugengespräch des General-Anzeigers am Mittwoch, 8. Oktober, ab 19 Uhr im Siegburger Stadtmuseum.

Gerade um verschwundene Strecken wie den Rhabarberschlitten, das Luhmer Grietche (Aggertalbahn) oder die Brötalbahn ranken sich viele Geschichten und Anekdoten. Der GA veröffentlicht einige dieser Erinnerungen vorab. Den Anfang macht heute der Rhabarberschlitten, dessen Name aus der Gegend um Mondorf stammt. Von dort aus transportierten einst Bauern (und nach dem Zweiten Weltkrieg auch Städter auf ihren Hamstertouren) jede Menge Rhabarber mit der Bahn.

Vom Schaffner zum Geschäftsführer eines Verkehrsunternehmens. Das ist eine Karriere, die heute wohl keinem mehr gelingt. Herbert Lütz hat es geschafft. Der langjährige Geschäftsführer der Rhein-Sieg-Verkehrsgesellschaft (RSVG) fing als 1955 Schaffner auf der Kleinbahn Siegburg-Zündorf an und bediente ab 1958 im Führerhaus selbst die Kurbel.

Der 80-Jährige ist der einzige noch lebende Fahrer des Rhabarberschlittens, der vom Siegburger Bahnhof über Kaiserstraße, Brückberg und Troisdorf nach Sieglar fuhr. Von dort ging es über den "Balkan" - Eschmar, Mondorf, Rheidt - nach Zündorf.

"Die meisten Wagen stammten aus der Anfangszeit der Strecke und hatten einen Aufbau aus Holz", berichtet Lütz. 1914 nahm die elektrische Bahn in Siegburg ihren Betrieb auf. Initiatoren waren der Siegkreis und der Stromversorger RWE, der die Betriebsführung übernahm.

In den ersten Jahren wurden mehr als 30 Trieb- und Beiwagen angeschafft, von denen die meisten bis 1963 durch die Straßen rumpelten. Neuanschaffungen gab es nur in den 50er Jahren, nach Kriegs- und Unfallschäden. Meist bestand der Rhabarberschlitten aus drei Wagen. "Als ich anfing, saß in jedem Wagen ein Schaffner", berichtet Lütz.

In fast 50 Jahren hat die Kleinbahn laut RSVG mehr als 192 Millionen Fahrgäste befördert, und das den ganzen Zeitraum mit dem selben Takt. Die Bahn fuhr zwischen Siegburg und Sieglar halbstündlich, bis Zündorf stündlich. Jeden Tag, von halb fünf bis halb eins. "Man hatte viele Stammgäste.

Zu der Zeit arbeiteten ja noch 14 000 Menschen bei Dynamit Nobel in Troisdorf", erzählt Herbert Lütz. Heikel seien immer die Abende gewesen, in denen auf den "Balkan"-Dörfern Kirmes gefeiert wurde. Dann waren zu später Stunde Betrunkene unterwegs, die gelegentlich aggressiv wurden.

Brenzlich wurde es zunehmend auch auf der Straße, wo in den 50er Jahren der Individualverkehr stetig zunahm. Zwischen Oberlar und Siegburg verlief die eingleisige Trasse größtenteils auf der Gegenspur des Kfz-Verkehrs. "Einmal rammte am 'Fass' auf der Kaiserstraße ein Lkw die Bahn, da war die ganze Seite aufgerissen", sagt Lütz. Zu Schaden kam niemand. Im "Aggerloch" nahe Brückberg starben einmal bei einem Unfall drei Personen.

"Die Bahn war zwar nicht direkt beteiligt, aber man schob ihr solche Unglücke gern in die Schuhe", so der Zeitzeuge. "Siegburg und Troisdorf wollten den Rheinaberschlitten 'raus haben." In der relativ engen Siegburger Innenstadt blockierten sich Bahn und andere Fahrzeuge immer wieder gegenseitig, so dass der Fahrplan - regulär 37 Minuten von Siegburg bis Sieglar - oft nicht zu halten war. Lütz: "Auf der Kaiserstraße war man teilweise zu Fuß schneller."

So schien es folgerichtig, dass im Oktober 1963 - das Ende des 50-jährigen Betreibervertrags zwischen Kreis und RWE stand bevor - der Rhabarberschlitten zwischen Siegburg und Sieglar eingestellt und durch Omnibusse ersetzt wurde. 1965 folgte der Abschnitt bis Zündorf, der heute aber noch bis Lülsdorf als Industriegleis der Evonik genutzt wird.

Was aus dem Rhabarberschlitten wurde? Kein einziger Wagen blieb im Kreis erhalten. "Die Holzwagen wurden aufs Feld bei Eschmar gefahren, mit Öl übergossen und angezündet", erzählt Lütz. "Wenn ich damals schon etwas zu sagen gehabt hätte, dann hätte ich einen Wagen für die Nachwelt aufbewahrt."

So existiert nur noch eine Wagenachse, die im Stadtmuseum Siegburg ausgestellt ist. Und bei der RSVG in Sieglar steht ein fahrbares Modell, das 1994 von Müllekovenern gebaut wurde. Für den örtlichen Karnevalszug.

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