Siegburg Das legendäre Lottchen auf Abwegen

Siegburg · Normalerweise hat es seinen festen Platz im Siegburger Stadtmuseum, das Lottchen. Da sitzt es ganz oben im Zuschauerrang des Forums. Der GA hat es zu einem Streifzug entführt.

Im Museum lebt das Lottchen als lebensgroße Puppe. Denn das echte Lottchen, bürgerlich Charlotte Bertram, ist schon seit 1971 tot. Aber viele Siegburger kennen den kleinwüchsigen Hermaphroditen noch. Als Altwarenhändler, als Postlieferant, als großen Karnevalsjeck, als Maskottchen des SV Siegburg 04. Und als gern gesehenen Gast in Siegburgs Kneipen. Der GA hat die Puppe aus dem Stadtmuseum entführt - für eine kleine Reise durch Siegburg, die Lottchen an Stationen seines Lebens führt.

Auf dem Marktplatz herrscht dichtes Gewühl, Fußgänger rauschen vorbei. Von Lottchen nimmt keiner Notiz, kein alter Bekannter kommt des Weges. Vielleicht halten die Passanten Lottchen für einen Stadtstreicher? Eine Frau möchte ihm ein paar Münzen geben. Im letzten Moment merkt sie, dass da eine Puppe sitzt. Wie hätte Lottchen reagiert? Es hätte die Spende gerne angenommen. "Dafür koof ich mir 'n Bier."

Auch an anderen Orten sorgt Lottchen für Aufsehen. Zum Beispiel auf dem Michaelsberg, wo es auf einer Mauer platziert wird und auf die Stadt hinabblickt. "Oh, Sie haben Ihren Großvater mitgebracht?", fragen zwei Touristen aus England. Was soll das sein, britischer Humor? Nein, es ist wohl ernst gemeint: Die Puppe, die der Kölner Künstler Thomas Aust vor mehr als 20 Jahren gefertigt hat, sieht täuschend echt aus. Es war ganz schön schweißtreibend, die Figur hoch zu schleppen und auf die Mauer zu setzen.

Auf dem Europaplatz, vor dem ICE-Bahnhof, zücken Passanten ihre Kamera, als sie das Lottchen sehen. Es ist ein älteres Ehepaar aus Köln. Eine Puppe? Unmöglich. Als sie das Lottchen berühren, merken sie, dass es nicht aus Fleisch und Blut ist. "Vor allem die Augen sehen echt aus", sagen sie.

Geboren wird Charlotte Bertram am 19. November 1912 in Siegburg. Das Siegburger Kreisblatt würdigte Lottchens Geburt mit zwei Zeilen: Fabrikarbeiter Wilhelm Bertram habe eine Tochter namens Charlotte bekommen, die Mutter blieb unerwähnt. "Tochter" ist nicht ganz richtig, denn das Baby hat beide Geschlechtsmerkmale. Neben dem Zwitter gehören noch zwei Söhne und eine Tochter zur Familie. Die Bertrams wohnen im Haus Kaiserstraße 144 zwischen der Albertstraße und der Gaststätte "Zum Fass", wo das Lottchen später gerne einkehrt.

Über Lottchens Jugend ist nicht viel bekannt. Anfangs soll Charlotte eher feminine Züge getragen haben, während sie mit dem Alter maskuliner wirkt. Nur 1,20 Meter groß und von pummeliger Gestalt, wird Lottchen nach dem Krieg zum festen Bestandteil des Straßenbildes. Kindern wird hänseln es oft. Wenn es aber mit seiner Bassstimme zu fluchen beginnt, suchen die Pänz das Weite.

Meistens hat Lottchen einen Karren dabei, der von einem Muli gezogen wird. Zusammen bilden sie ein kleines Transportunternehmen. Lottchen bringt die Post, die Schulspeisung und versorgt die Zuschauer bei Spielen des SV Siegburg mit Kautabak und Süßigkeiten. In den Kneipen geht es ein und aus. Natürlich bleiben auch da die Hänseleien nicht aus, doch Lottchen weiß sich mit seinem frechen Mundwerk zur Wehr zu setzen. Damit es mit den anderen Thekenstehern auf Augenhöhe kommunizieren kann, baut ihm der Wirt der Stadtschänke ein Fußbänkchen.

Wenn das Lottchen keine Lust hat, den Heimweg aus der Kneipe zu Fuß anzutreten, setzt es sich betrunken auf eine Bank und krakeelt so lange herum, bis jemand die Polizei ruft. Von der Streife lässt es sich dann gerne nach Hause fahren. Kommt die Polizei nicht schnell genug, beschwert es sich.

Letzte Station: der Trerichsweiher. Das Gewässer liegt idyllisch am Rande von Siegburg. Hier lebt Lottchen zuletzt in einer ärmlichen Holzhütte. In den 60er Jahren hat es keine Arbeit mehr und muss mehrfach eine neue Bleibe suchen. Es wohnt in der Kaiserstraße, am Hohlweg und in der Frankfurter Straße. Im dortigen Frankfurter Hof befindet sich eine Obdachlosenunterkunft.

Am Trerichsweiher soll Lottchen sein Ende gefunden haben. Der Schuppen brennt kurz vor Karneval 1971 nieder, in den Trümmern liegt - so wird heute von Anwohnern des Brückbergs berichtet - eine Leiche. Fest steht nur, dass der 13. Februar 1971 Charlotte Bertrams Todestag ist. Lottchen stirbt wenige Tage vor dem Siegburger Rosenmontagszug, auf dem es bis dato nie gefehlt hatte.

Alte Fotos gesucht

GA-Fotograf Holger Arndt sammelt historische Fotos, die Charlotte Bertram alias Lottchen zeigen. Arndt hat sich mit dessen Vita beschäftigt. Er richtete 2012 eine Geburtstagsfeier mit Vortrag zu Lottchens 100. Geburtstag im Stadtmuseum aus. 120 Gäste kamen. Kontakt: siegburg@ga.de.

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