Bonner Werkstätten in Meckenheim Wo Mindestlohn keine Rolle spielt

BONN · Menschen mit geistiger Behinderung finden in den Bonner Werkstätten einen Arbeitsplatz. Hier bekommen sie Unterstützung, die bei einem regulären Arbeitsplatz wegfielen. In Bonn verdienen sie zwischen 75 und 500 Euro im Monat - abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit.

 Mareike D. (29) arbeitet seit zehn Jahren im Werk Meckenheim.

Mareike D. (29) arbeitet seit zehn Jahren im Werk Meckenheim.

Foto: barbara frommann

Mareike D. (29) verpackt an einem Tage der Woche Cremedosen. Den Rest der Woche faltet die junge Frau Kartons. Was anstrengender ist? "Kartons falten", antwortet sie knapp aber wie aus der Pistole geschossen. An manchen Tagen faltet sie ein paar hundert Stück.

Was sie nicht mag: Wenn es kniffelig wird, zum Beispiel wenn Beipackzettel zu den Kosmetika gesteckt werden müssen. Dabei sei sie bei filigranen Arbeiten besonders geschickt, verrät ihr Gruppenleiter. Auf Fragen gibt Mareike kurze Antworten. Was sie in der Mittagspause am liebsten isst? "Nudeln und Fleisch." Ob sie aufgeregt sei: "Weiß nicht." Ein offenes fröhliches Lachen. Dabei lugt ihre Zunge schelmisch hervor.

Wie die meisten ihrer Kollegen in den Bonner Werkstätten verfügt Mareike über einen IQ, der deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Mit dem Begriff "geistig behindert" tun sich die Leiter der Werkstätten schwer. Sie halten sich lieber an die Bezeichnung der Weltgesundheitsorganisation und sprechen von "verminderter Intelligenz". Bei einer leichten Intelligenzminderung liegt der IQ zwischen 50 und 69, bei einer mittelgradigen zwischen 35 und 49.

Zum Vergleich: Mit einem Wert um 100 ist der Mensch durchschnittlich intelligent. Mareike könnte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht länger als drei Stunden arbeiten - Voraussetzung dafür, um in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung aufgenommen zu werden. Hier gibt es Gruppenleiter, die fachlich und pädagogisch geschult sind und den Mitarbeitern zur Seite stehen. Die Arbeitsschritte sind meist kleinteiliger und überschaubarer als in anderen Firmen.

Sich um Aufträge bemühen müssen sich die Werkstätten jedoch wie alle anderen auch: "Wir konkurrieren mit anderen Firmen und müssen genauso mit Qualität überzeugen", erklärt der Leiter des Werks 3 in Meckenheim Jochen Flink. Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte Menschen können Werkstätten zwar nicht die gleichen Produktionszeiten wie herkömmliche Unternehmen einhalten, "aber einige Firmen wollen mit ihren Aufträgen auch etwas gutes tun", so Sprecherin Cornelia Hrgovic.

Außerdem ergeben sich für Kunden Vorteile, wenn sie einer Werkstatt den Zuschlag geben: Zum einen zahlen sie für Dienstleistungen und Produkte meist den ermäßigten Steuersatz von sieben statt 19 Prozent. Und: "Sie können an uns vergebene Aufträge auf die Ausgleichsabgabe anrechnen lassen", erklärt Britta Lesch. Leiterin der Sozialverwaltung der Bonner Werkstätten. Die so genannte Ausgleichsabgabe entrichten Betriebe, die mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigen, aber keinen Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung zur Verfügung stellen. Eine Quote von fünf Prozent ist ab dieser Unternehmensgröße gesetzlich vorgeschrieben.

Insgesamt verfügen die Bonner Werkstätten über vier Standorte, 1105 Mitarbeiter mit Handicap sind hier beschäftigt. Die Standorte seien in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Auftragslage zur Zeit sei sehr gut, so die Leitung. Auch Bonner Unternehmen wie Verpoorten und Tee Gschwender zählen zu den Auftraggebern. Der Jahresumsatz der Werkstätten für die Produktion liegt etwa bei sieben Millionen Euro. Mindestens 70 Prozent der erwirtschafteten Arbeitsergebnisse müssen an die Mitarbeiter als Entgelte ausgezahlt werden. Maximal 30 Prozent werden als Rücklagen angelegt.

Etwa 38 Stunden arbeiten Mareike und ihre Kollegen pro Woche. In der Arbeitszeit eingerechnet sind auch Pausen und Freizeitaktivitäten, zum Beispiel Sport. Günter L. (31) spielt einmal pro Woche Fußball. Seine Augen strahlen, wenn er davon erzählt. Günter liebt Action. Welche Energie in ihm steckt, zeigt er bei der Arbeit. Flink sucht er sich sein Arbeitsmaterial zusammen, dann knallt es. Einmal, zweimal, dreimal. Ein ohrenbetäubender Lärm. Mit einem Druckluftnagler schießt er Nägel in eine Holzplatte. Einmal hat er sich dabei verletzt. Zum Glück nur ein "Streifschuss", erzählt er. In der Holzverarbeitung baut er Kisten zusammen, die als Verpackung für die unterschiedlichsten Produkte dienen. Ein anderer Arbeitsplatz käme nicht in Frage: "Ich mag den Geruch von Holz."

Günter übernimmt keine leichte Arbeit. Zudem ist sie nicht ungefährlich. Dennoch wäre er für eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt momentan noch nicht geeignet. "Seine Arbeit beherrscht er sehr gut", erläutert Jürgen Hampel vom sozialen Dienst der Werkstatt, "aber er wäre nicht in der Lage, mit öffentlichen Verkehrsmitteln alleine zur Arbeit zu kommen." Der Zubringer holt ihn jeden Morgen zu Hause ab.

Mitarbeiter in Werkstätten haben viele Möglichkeiten der Unterstützung, die bei einem regulären Arbeitsplatz wegfielen. In Bonn verdienen sie zwischen 75 und 500 Euro im Monat - abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte Menschen hat errechnet, dass der Durchschnittslohn bundesweit bei 1,20 Euro pro Stunde liegt. Von einem Mindestlohn weit entfernt. Allerdings gelten Mareike und Günter nicht als Arbeitnehmer.

Das Gesetz spricht von arbeitnehmerähnlichen Beschäftigungen. 300.000 Menschen in 700 Werkstätten betrifft das Gesetz bundesweit. Die Mitarbeiter erhalten somit keinen Lohn, sondern ein Entgelt. "Natürlich setzen wir uns für höhere Entgelte ein, damit die Menschen davon leben können", erklärt Hrgovic, doch Mindestlohn heiße, die Mitarbeiter würden behandelt wie alle anderen auf dem ersten Arbeitsmarkt auch. "Das würde bedeuten, dass viele Annehmlichkeiten und Fördermaßnahmen wegfallen."

Für manche wird ein Mindestlohn dennoch ab und an Realität: Vier bis fünf Mitarbeiter der Bonner Einrichtung schaffen es jährlich, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ergattern. Auch Mareike sammelt bereits erste Erfahrungen: Einen Teil ihrer Arbeitszeit verbringt sie bei dem Bonner Unternehmen Eaton - betriebsintegrierter Arbeitsplatz heißt dieses Modell der Werkstätten. Angestellt ist sie so zwar nicht, aber Spaß macht es ihr trotzdem. Ob sie bereits viele Freunde dort gefunden hat? "Ja". Kurz und knapp.

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