Kommentar Mit den Ohren sehen?

OBERPLEIS/RHEIN-SIEG-KREIS · Wie fühlt es sich an, auf eine Landstraße zu treten ohne die fahrenden Autos sehen zu können? Ich möchte mir vorstellen können, wie es Andrea Nell geht, wenn sie auf die Fahrbahn tritt, auf der der Verkehr mit 100 Stundenkilometern auf sie zurast, und sie sich dabei nur auf ihr Gehör verlassen kann.

Ich mache den Selbstversuch. Es ist kein faires Experiment - natürlich nicht. Ich kann meine Augen jederzeit wieder öffnen, mich orientieren, mir Gewissheit verschaffen. Andrea Nell, die vor vier Jahren ihr Augenlicht verloren hat, kann das nicht.

Ich trete an die Fahrbahnkante und schließe die Augen. Eine Weile warte ich, versuche die verschiedenen Geräusche zu sortieren, die im Auf- und Abnehmen der Verkehrsgeräusche auftauchen: ein Flugzeug, Vögel, der Wind in den Blättern der Bäume. Ich warte mehrere vorbeifahrende Wagen ab. Ein Auto nähert sich, es ist genau vor mir und schon ist es vorbei.

Ich mache den ersten Schritt und zögere. Die Motoren- und Fahrtwindgeräusche des letzten Autos wollen einfach nicht ganz verstummen. Ich bin nicht sicher, ob es nicht bereits wieder ansteigt und schon ein neues Fahrzeug auf mich zukommt. Noch einmal wage ich es. Es wird einfach nicht stiller. Der Wind, das Flugzeug. Tu es! Jetzt! Los...ich öffne meine Augen.

"Genau jetzt wäre ich gegangen", sage ich mir, um mich aus der Affäre zu ziehen. Der Blick nach rechts und links beweist mir: Es wäre gut gegangen. Jetzt weiß ich, dass ich mich auf mein Gehör verlassen kann. Ich warte bis die nächsten Autos vorbei sind und starte den nächsten Versuch. Und den übernächsten. Und noch einen. Gegangen bin ich nie.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort