Förderschule Königswinter Die Leiterin Franziska Müller-Luhnau über Inklusion und Verantwortung

KÖNIGSWINTER · Das Thema Inklusion ist derzeit in aller Munde. Gemeint ist damit vor allem das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf. Für Franziska Müller-Luhnau greift das zu kurz. Denn für die Sonderpädagogin, die seit elf Jahren in Königswinter die Drachenfelsschule leitet, ist Inklusion ein gesamtgesellschaftliches Thema, das sich nicht auf den Bildungssektor begrenzen lässt.

Lernen und Sprache sind die Förderschwerpunkte an der Drachenfelsschule in Niederdollendorf. Der Spaß - wie hier bei der Eröffnung des Schulgartens - kommt dabei auch nicht zu kurz.

Lernen und Sprache sind die Förderschwerpunkte an der Drachenfelsschule in Niederdollendorf. Der Spaß - wie hier bei der Eröffnung des Schulgartens - kommt dabei auch nicht zu kurz.

Foto: Frank Homann

Können Sie das Wort Inklusion überhaupt noch hören?
Franziska Müller-Luhnau: Aber natürlich. Der Gedanke der Inklusion kommt ja aus der Sonderpädagogik, die seit jeher eine gleichberechtigte Teilhabe aller an der Gesellschaft fordert.

Das neue Inklusionsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen kann aber für Ihre Schule das Aus bedeuten...
Müller-Luhnau: Das ist richtig. Nach dem Gesetz bräuchten wir als Förderschule 144 Schüler. Die hatten wir nie. Derzeit haben wir 104 Schüler. Da wird man sich Gedanken machen müssen, ob und wie man uns erhalten kann.

Sie halten Förderschulen aber weiter für notwendig?
Müller-Luhnau: Ja. Eltern sollen doch das Wahlrecht haben. Da muss es auch eine Alternative zur Regelschule geben.

Wodurch unterscheidet sich die Förderung an Ihrer Schule von der an einer Regelschule?
Müller-Luhnau: Kinder mit einem Förderbedarf Lernen werden - an jeder Schule übrigens - zieldifferenziert unterrichtet. Das heißt, sie machen am Ende ihrer Schullaufbahn nicht unbedingt einen Hauptschulabschluss, sondern erhalten den Abschluss im Bildungsgang Lernen, den sie mit dem Förderbedarf Lernen auch an der allgemeinen Schule erlangen und haben damit ein Anrecht auf Hilfe beim Berufseinstieg. Wir unterrichten in kleinen Lerngruppen, der Klassenlehrer betreut die Klassen in den meisten Fächern. Wir verfügen über Fachpersonal. Unser Ziel ist es, Bedingungen zu schaffen, unter denen jedes Kind lernen kann.

Und warum sollte das an Regelschulen nicht gehen?
Müller-Luhnau: Ich habe an Regelschulen sehr viele, sehr gute Ansätze gesehen. Aber die Klassen sind größer, nicht immer steht das unterstützende Fachpersonal in ausreichendem Maße zur Verfügung.

Wenn das Angebot der Förderschulen so gut ist - warum zögern so viele Eltern, ihr Kind dorthin zu schicken?
Müller-Luhnau: Das hat etwas mit dem Stigma zu tun, das immer noch den Förderschulen anhaftet...

Eine Schule für Dumme?
Müller-Luhnau: Das ist genau das Vorurteil, dabei hat ein Förderbedarf Lernen nichts mit dem Begriff "dumm" zu tun, sondern ist sehr vielschichtig. Aber manchmal nennen die Schüler ihre Schule selbst so. Manche versuchen zu verschweigen, wohin sie gehen. Dieses Stigma muss weg. Auch den Eltern fällt es oft schwer, sich nach Feststellung des Förderbedarfs für diese Schule zu entscheiden.

Inwiefern?
Müller-Luhnau: Bei manchen Kindern weiß man von Geburt an, dass sie Förderung brauchen werden. Aber viele unserer Eltern stellen erst mit der Einschulung fest, dass ihre Kinder den Anforderungen dieser Gesellschaft ohne besondere Förderung nicht gerecht werden können. Das ist dann schwierig. Es handelt sich dabei um ein gesellschaftliches Problem. Und deshalb meine ich, dass Inklusion nicht nur ein bildungspolitisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema ist.

Wieso?
Müller-Luhnau: Wie soll das zusammengehen? Einerseits bauen wir als Gesellschaft einen enormen Leistungsdruck auf, schon in der Grundschule diskutieren die Kinder über die "richtige" weiterführende Schule. Gleichzeitig wollen wir Inklusion. Wir müssen als Gesellschaft lernen, mit Heterogenität zu leben und umzugehen, und wir müssen lernen, sie zu akzeptieren. Das ist ein Prozess, der sich entwickeln muss, da ist Toleranz gefragt.

Das klingt ein bisschen theoretisch...
Müller-Luhnau: Das ist es ja gerade. Man muss da manches realistisch sehen. Manche unserer Schüler laufen Gefahr, an Regelschulen zu Außenseitern, zu Opfern von Ausgrenzung zu werden. Das kann nicht das Ziel sein, uns sollte es letztendlich doch immer um das Kind gehen. Es muss im Mittelpunkt stehen.

Aber das sollte doch bei allen Schulen so sein?
Müller-Luhnau: Das ist richtig. Viele Schulen sind auf einem guten Weg. Und es macht auch immer einen Unterschied, ob sich ein Kollegium freiwillig auf diesen Weg macht, oder ob es verordnet wird.

Ändert sich die Einstellung der Eltern gegenüber der Förderschule im Laufe der Zeit?
Müller-Luhnau: Ja, wir machen diese Erfahrung. Es ist schon heute so, dass die Kinder nur im Konsens mit den Eltern an unsere Schule kommen. Es ist gerade auch für das Kind wichtig, dass die Eltern mit uns zusammenarbeiten. Aber wir erleben es immer wieder, dass Eltern später sagen: Wir sind froh, damals diese Entscheidung getroffen zu haben. Das bedeutet dann auch immer: Sie stehen hinter ihrem Kind.

Zur Person

Franziska Müller-Luhnau ist 59 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und hat sieben Enkelkinder. Die Sonderpädagogin ist seit elf Jahren Leiterin der Drachenfelsschule in Königswinter. Ihr Referendariat absolvierte sie an der Königin-Juliana-Schule in Bonn, später arbeitete sie an der Albert-Schweitzer-Schule in Rheinbach. Bevor sie nach Königswinter wechselte, unterrichtete sie am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Siegburg Lehramtsanwärter.

Die Drachenfelsschule

Die Drachenfelsschule der Stadt Königswinter in Niederdollendorf ist eine Verbundschule mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache. Unterrichtet werden dort Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 16 Jahren in den Klassen eins bis zehn. Während in der Unterstufe hauptsächlich Kinder mit dem Förderbedarf Sprache unterrichtet werden, werden Mittel- und Oberstufe vorwiegend von Jugendlichen mit dem Förderbedarf Lernen besucht.

Inklusion

Mit dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz hat das Land NRW den Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt und die ersten Schritte auf dem Weg zur inklusiven Bildung an allgemeinen Schulen gesetzlich verankert. Schülern mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung soll grundsätzlich immer ein Platz an einer allgemeinen Schule angeboten werden. Eltern sollen jedoch für ihr Kind auch weiter die Förderschule wählen können.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort