Rückkehr nach 70 Jahren D-Day-Überlebender: "Ich habe einen Schutzengel gehabt"

KÖNIGSWINTER · Paul Golz aus Königswinter erlebte den D-Day in der Normandie am 6. Juni 1944 als Soldat und nimmt heute an den 70-Jahr-Feierlichkeiten teil.

So oft wie in den vergangenen Tagen in der Normandie ist Paul Golz in seinem ganzen Leben wohl nicht fotografiert worden. Am Mittwoch und gestern traf der 89-jährige Kriegsveteran aus Königswinter-Pleiserhohn amerikanische Veteranen, also den Feind von damals. Heute wird er bei den Feierlichkeiten zum D-Day zusammen mit weiteren 15 Veteranen sowie Staats- und Regierungschefs auf der Tribüne sitzen. Dort wird er Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßen und nach der Feier zum deutschen Friedhof begleiten. An den Gräbern der Gefallenen wird er neben dem französischen Präsidenten François Hollande stehen.

Bereits vor seiner Reise nach Frankreich, bei der er von seinem amerikanischen Freund und Nachbarn Andrew Denison und einer Freundin begleitet wird, erhielt der Veteran Interviewanfragen vom britischen Sender BBC. Auch ARD, ZDF und Arte interessierten sich für das, was der damals 19-Jährige an jenem 6. Juni 1944 in der Normandie erlebte. Weltweit ist die größte Landungsaktion der Geschichte unter dem Namen D-Day bekannt.

Paul Golz ist einer der wenigen Veteranen, die noch von ihren Erfahrungen berichten können. Er war dort, wo vor 70 Jahren Weltgeschichte geschrieben wurde. Auf einer Breite von 98 Kilometern zwischen Sainte-Mère-Église auf der Halbinsel Cotentin im Westen und Ouistreham im Osten gingen an einem Tag rund 150 000 amerikanische, kanadische und britische Soldaten von gut 3000 Booten an Land. Begleitet wurden sie von etwa 7500 Flugzeugen, die die Infanteristen beschützen sollten, die aber nicht verhindern konnten, dass bei der ersten Welle bereits knapp 5000 Soldaten ihr Leben verloren.

"Auf der Suche nach etwas Essbarem sah ich auf einer Weide etwas Weißes, das sich bewegte"

Paul Golz, der in Pommern aufwuchs, sieht es heute noch als Glück an, dass er nach Ende seiner militärischen Ausbildung in Westpreußen wegen Diphterie und Scharlach nicht nach Russland abkommandiert wurde. Das war im Januar 1944. "Bereits da hatte ich einen guten Schutzengel", sagt er. Nach einem Genesungsurlaub wurde er nach Baumholder im Hunsrück verlegt, wo seine Division General Erwin Rommel, dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, unterstellt wurde.

Mitte Mai wurden die Soldaten auf die Höhen nahe Cherbourg verlegt. Sie hausten dort mit acht bis neun Mann in ein Meter tiefen Erdlöchern, die sie zuvor ausgehoben hatten. Zusammen mit französischen Kriegsgefangenen setzten sie in dem Sumpfgebiet sogenannte "Rommelspargel", etwa vier Meter lange Baumstämme, die in die Erde eingegraben und mit Stacheldraht verbunden wurden. Daran sollten die Fallschirmjäger hängen bleiben.

[video]Golz war Schütze der schweren Maschinengewehrgruppe und musste Munitionskisten tragen. "Am D-Day stand ich etwa ab 2 Uhr nachts auf Posten und sah, wie die alliierten Flugzeuge in der Gegend von Carentan sogenannte Christbäume setzten. Die glitzerten und waren eigentlich ganz schön anzuschauen", erzählt er. Die Beleuchtung sollte den Alliierten den Weg an Land erleichtern. Als er am nächsten Morgen im Dorf einen Liter Milch holte, warnten ihn die Franzosen: "Haut ab. Die Alliierten sind gelandet."

Auf dem Weg nach Sainte-Mère-Église, wohin seine Einheit verlegt wurde, erblickte der 19-Jährige die ersten Fallschirme und Lastensegler. Zu diesem Zeitpunkt hatte seine Einheit zwei Tage weder Verpflegung noch Wasser bekommen. "Auf der Suche nach Schokolade oder etwas Essbarem sah ich auf einer Weide etwas Weißes, das sich bewegte. Ein schwarzer Fallschirmjäger hatte einen weißen Socken auf sein Gewehr gesteckt. Ich entsicherte mein Gewehr und ging auf ihn zu. Er zitterte vor Schreck am ganzen Leib. Ich sagte auf Deutsch, dass ich ihm nichts tun werde. Durch meinen ruhigen Tonfall hat er das wohl verstanden und mir Wasser aus seiner Feldflasche angeboten."

"Why didn't you shoot him?
"Warum haben Sie ihn nicht erschossen?"

Sein Umgang mit dem Amerikaner sei eine impulsive Entscheidung gewesen. Er habe an seinen Vater gedacht, der im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war. "Er war Presbyter und sagte immer: Wenn du Gefangene machst, sind das Menschen wie du und ich." Der erste Feindkontakt des Deutschen interessierte auch die BBC. "Why didn't you shoot him?", lautete die Frage. (Warum haben Sie ihn nicht erschossen?) Die Antwort: "As soon as he had no gun he was no longer the enemy." (Als er kein Gewehr mehr hatte, war er nicht mehr länger der Feind.) So einfach war das für Paul Golz.

Auf der Suche nach versteckten Fallschirmjägern fanden er und ein Kamerad aus Sachsen am nächsten Tag einen toten amerikanischen Soldaten. "Er saß an einer Böschung und hatte die Augen auf. Ich sah ihm keine Verwundung an. Mein Kollege nahm dem Toten ein Lederetui ab, das ein Bild einer blonden Frau aus New York enthielt. Er wollte ihm auch einen Finger abschneiden, um ihm einen goldenen Siegelring abnehmen zu können. Ich sagte zu ihm: Wenn du ihm den Finger abschneidest, schieße ich dich über den Haufen." Das zeigte Wirkung.

Wenig später wurden die beiden Soldaten von der Besatzung eines US-Panzers festgenommen. "Wir saßen in der Mausefalle und die Amerikaner sagten nur: Hands up!" In der Gefangenensammelstelle wurden sie durchsucht. Dabei wurde bei dem Sachsen das Etui entdeckt, was ihm einen Stich mit dem Seitengewehr einbrachte. "Siehst du, das hast du nun davon. Wenn sie den Siegelring bei dir gefunden hätten, hätten sie dich über den Haufen geschossen", erinnert sich Golz an seine damaligen Worte. Da sei er für den Kameraden zum Schutzengel geworden.

Am gleichen Abend wurden sie auf ein englisches Schiff gebracht und erhielten das erste Essen seit Tagen. Erneut hatte Paul Golz großes Glück. "Bei den Kämpfen hatte mir ein Granatsplitter lediglich am Uniformrock ein Loch gerissen." Von England ging es nach Schottland und von dort mit der Queen Mary I. mit 2000 deutschen Kriegsgefangenen nach Amerika.

Nach fünf Tagen erreichten sie New York. In einem Lager in West Virginia trank er seine erste Cola, die Gefangenen erhielten die gleiche Verpflegung wie die US-Soldaten. "Dass wir auch Schokolade bekamen, haben die deutschen Behörden in den Briefen in die Heimat geschwärzt", erzählt Golz. Er selbst war nicht auf Zigaretten, sondern auf Obst aus. "Dort habe ich den Grundstock für meine gute Gesundheit gelegt. Auch da habe ich einen Schutzengel gehabt."

Im Mai 1946 entließen die USA alle Kriegsgefangenen. Aber statt nach Hause ging es für Paul Golz zum Straßenbau nach Schottland. Später befreite er in seiner Freizeit mit anderen deutschen Soldaten einen Fußballplatz vom Schnee. Sonntags lud der Trainer ihn in sein Haus zum Mittagessen ein.

Obwohl der Schotte und vor allem dessen Tochter May ("Die hatte ein Auge auf mich geworfen") ihn zum Bleiben überreden wollten, kehrte Golz im Oktober 1947 zurück. Zuerst zu einem Onkel in Hamburg. Durch seinen Bruder Werner, der in britischer Gefangenschaft war, gelangte er ins Rheinland. 1951 ging er zum Bundesgrenzschutz nach Duisdorf. 1953 lernte er seine Frau Margarete kennen, die 2010 starb. 1958 wechselte Paul Golz zum Auswärtigen Amt. Sein erster Auslandsaufenthalt war 1960 die deutsche Botschaft in Madagaskar. 1969 zog er in sein neues Haus nach Pleiserhohn.

Dort lernte er Jahre später auch Andrew Denison kennen. Der US-Amerikaner, der als politischer Berater arbeitet und eine deutsche Frau hat, lebt seit 1991 in Deutschland und seit 1995 in Pleiserhohn. Er interessierte sich bereits als Kind für den Zweiten Weltkrieg. 2004 reiste er zum 60. Jahrestag des D-Day in der Normandie.

Als er erfuhr, dass sein Nachbar 1944 mit dabei war, reifte der Entschluss, mit Golz gemeinsam zum 70. Jahrestag nach Frankreich zu fahren. "Weihnachten habe ich ihn gefragt, ob er mich am 6. Juni begleiten würde. Das ist wahrscheinlich der letzte Jahrestag, an dem die Veteranen noch dabei sein können", sagt Denison. Paul Golz wollte. Und er hat es nicht bereut.

Die Landung im Juni 1944 war der Auftakt zur Befreiung Frankreichs und Westeuropas von der Nazi-Herrschaft.

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