Interview mit Manfred Lütz "Wir brauchen mehr Aufklärung"

Bornheim · Manfred Lütz, Buchautor, Psychiater und Theologe aus Bornheim, beantwortet Fragen rund um psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz.

Herr Lütz, Ihr Buchtitel „Irre – Wir behandeln die Falschen“ ist eine gewagte These. Wie ist das zu verstehen? Sind Ihre Patienten eigentlich gesund und alle anderen krank?
Manfred Lütz: Natürlich ist der Titel nicht wörtlich zu nehmen. Wir behandeln selbstverständlich in unserer Klinik die Richtigen, darauf bestehe ich (lacht). Was ich mit dem Titel im übertragenen Sinne sagen möchte ist, dass psychische Kranke im Schnitt viel liebenswürdigere Menschen sind als wir Normalen. Und tatsächlich, die großen Verbrecher der Menschheitsgeschichte, Hitler, Stalin, Kim Jong-Un, die waren nicht verrückt, sie waren normal, schrecklich normal.

Ob das jeder so sieht, würde ich bezweifeln…
Lütz: Aus fachlicher Sicht ist das so. Aber man neigt dazu, das Böse irgendwie wegzudefinieren, nach dem Motto: „Der ist halt verrückt. Das ist keiner von uns“. Das Böse ist unheimlich, aber wir alle können böse handeln. Goethe hat mal gesagt, er sehe sich im Stande, jedes Verbrechen zu begehen. Man kann das Böse nicht einfach durch Diagnosen wegerklären.

Menschen mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung lassen sich nun nicht so einfach weg erklären. Gerade Erkrankung und Arbeit werden immer wieder in einen Zusammenhang gebracht. Woher kommt das?
Lütz: Man kann nicht sagen, dass die Arbeitsbelastung heute höher sei als etwa im 19. Jahrhundert. Da arbeitete man 24 Stunden unter Tage ohne Urlaub, auch nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wiederaufbau Deutschlands eine riesige Anstrengung. Arbeit ist nicht heute erstmals anstrengend.

Gut, aber den Arbeitgebern wird oftmals der Vorwurf gemacht, zu viel zu fordern…
Lütz: Das war sicher zu allen Zeiten so. Ein kluger Arbeitgeber wird darauf achten, seine Mitarbeiter nicht zu überfordern und er wird für gute Arbeitsbedingungen sorgen, denn motivierte Arbeiter arbeiten auch besser und effektiver. Jedenfalls gibt es heute andere Belastungen als früher und dem muss man sich stellen.

Aber auch der Mensch selbst steckt sich immer höhere Ziele. Laufen ehrgeizige Menschen eher Gefahr zu erkranken als weniger strebsame?
Lütz: Es gibt das Peter-Prinzip, das besagt, dass Mitarbeiter so weit befördert werden, bis sie unfähig sind, das heißt bis sie die Arbeit nicht mehr bewältigen können. Das hat nicht selten mit übertriebenem Ehrgeiz zu tun. Da gibt es auch einen gewissen gesellschaftlichen Druck, immer weiter nach oben zu streben, doch nicht jeder ist zum Beispiel für eine Leitungsposition geschaffen.

Wie meinen Sie das?
Lütz: Wenn zum Beispiel ein Versicherungsvertreter, der hervorragende Kundenkontakte hat und viele Verträge vermittelt, zur Belohnung Abteilungsleiter wird, dann hat er da keine Kundenkontakte mehr, muss vielmehr Leitungskompetenz beweisen, die er aber vielleicht gar nicht hat. Dann wird er auf Seminare geschickt. Das meiste bei der Leitungskompetenz kann man aber nicht wirklich lernen und so wird dieser Mensch todunglücklich und meint gar er habe ein „Burnout“. Der ist aber gar nicht psychisch gestört, der hat sich bloß überfordert und anstatt 4 Wochen Wassertreten in einer Burnout-Klinik zu machen, wäre es für diesen Menschen besser, wieder ganz normaler Versicherungsvertreter zu werden, weniger zu verdienen, aber damit glücklich zu sein. Wenn man Menschen mit Aufgaben betraut, die sie überfordern, macht man sie unglücklich.

Aber wie schafft der Arbeitgeber da den Spagat?
Lütz: Indem er mit einem Mitarbeiter ehrlich über seine Fähigkeiten, aber auch über seine Begrenzungen spricht. Das ist sicher nicht ganz einfach, aber damit hilft man letztlich dem Mitarbeiter.

Also muss auch der Arbeitgeber seine Verantwortung sehen und vor allem wahrnehmen?
Lütz: Deswegen wird er ja auch gut bezahlt.

Und was soll er tun, damit sein Arbeitnehmer erst gar nicht erkrankt?
Lütz: Die Erkenntnisse der Arbeitsmedizin ernstnehmen. Arbeit sollte für den Mitarbeiter möglichst abwechslungsreich sein, nicht zu monoton. Der Mitarbeiter sollte in seiner Arbeit Sinn sehen können und er sollte nach Möglichkeit in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, dass er den Eindruck hat, etwas bewirken zu können.

Kann das als eine Grund-Maxime betrachtet werden?
Lütz: Ich finde das keine Maxime, aber ein gutes Ziel, das man freilich nie ganz erreichen kann. Ein bisschen vom Gehalt ist auch immer Schmerzensgeld, für die Mühe, die die Arbeit macht. Wer eine Arbeit sucht, die nur Spaß macht, wird kaum etwas finden.

Wenn der Arbeitgeber als Grund für eine psychische Erkrankung angesehen wird, ist das nicht vielleicht auch eine Verschiebung des Problems?
Lütz: Es gibt nie bloß einen Grund. Und man darf nicht so tun, als sei Arbeit vor allem Grund für Erkrankungen. Das Gegenteil ist der Fall. Arbeitslosigkeit führt viel eher zu psychischen Störungen und Arbeit ist gut für den Menschen. Aber dass übermäßige Belastungen am Arbeitsplatz sich schnell sehr ungünstig auswirken können liegt vor allem daran, dass die Arbeitszeit einen erheblichen Teil unserer Lebenszeit ausmacht. Aber im Wesentlichen ist Arbeit kein Problem, sondern eine Kraftquelle fürs leben. Auch eine Partnerschaft kann ja Anlass für eine Erkrankung sein. Trotzdem kommt keiner auf die Idee, Beziehungen deswegen einfach abzuschaffen. Jedenfalls sollte der Arbeitgeber sensibel sein für psychische Belastungen am Arbeitsplatz und konstruktiv reagieren, wenn er merkt, dass die Krankheitstage steigen.

Wie muss Arbeit organisiert werden, dass sie nicht krank macht?
Lütz: Der Arbeitsplatz ist keine therapeutische Wohngemeinschaft. Hier muss eine Arbeitsatmosphäre herrschen, das heißt durchaus auch eine fordernde Atmosphäre. Aber man kann als Arbeitgeber viel tun, damit die Arbeit für die Mitarbeiter auch als erfüllend erlebt wird.

Und wenn die Arbeit keine Freude mehr macht? Wie sieht das ideale Krisenmanagement aus, wenn eben doch ein Mitarbeiter beziehungsweise Kollege längere Zeit ausfällt?
Lütz: Es ist wichtig, dass der Arbeitgeber und auch die Kollegen in ihrer Rolle bleiben. Sie sollen nicht Diagnosen stellen und Therapie anbieten. Sie können nur nüchtern feststellen, dass die Arbeitsleistung nicht mehr erbracht wird und das ist nicht selten ein wichtiger Hinweis, dass fachliche Hilfe in Anspruch genommen werden sollte.

Wie geht es dann weiter? Wenn tatsächlich eine psychische Erkrankung vorliegt?
Lütz: Ein guter Arbeitgeber sorgt dafür, dass der Betroffene keine Nachteile durch seine Erkrankung hat. Er sorgt auch für Akzeptanz unter den Kollegen. Wenn der Eindruck herrscht, man könne keine Schwächen zeigen, ist das nicht förderlich für das Betriebsklima. Dann traut sich auch keiner, sich Hilfe zu holen. Im Umkehrschluss heißt das: An einem Arbeitsplatz, an dem man mit psychischen Erkrankungen professionell umgeht, wird es weniger Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen geben.

Also soll der Betroffen offen über sein Befinden informieren?
Lütz: Es ist meist gut, wenn der unmittelbare Chef in Grundzügen informiert ist. Dann erklären sich im Nachhinein Ausfälle und Leistungseinschränkungen. Manchmal kann es nützlich sein, den Psychiater von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden, damit er dem Arbeitgeber erklären kann, was vorliegt und dass er vor allem völlig normal mit dem Mitarbeiter umgehen und ihn nicht wie ein Behinderten behandeln sollte.

Sprich, der Betroffene sollte genau überlegen, wem er was erzählt und wie viel?
Lütz: Genau.

Überhaupt über eine psychische Erkrankung zu sprechen, dürfte einigen Betroffenen schwer fallen…
Lütz: Das muss man auch nicht, da ist jeder anders. Man sollte als Patient nur das weitersagen, was die anderen benötigen, damit sie besser verstehen, wie man in Zeiten der Störung reagiert hat.

Eine letzte Frage, Herr Lütz, was kann getan werden, um psychische Erkrankungen zu enttabuisieren?
Lütz: Wir brauchen mehr Aufklärung! Angesichts der Tatsache, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben mal psychisch krank sind und die anderen zwei Drittel irgendwelche Angehörigen haben, die psychisch krank sind, ist es eine Schande, dass es nach wie vor mittelalterliche Vorstellungen über psychische Erkrankungen gibt. Daher habe ich das Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen“ geschrieben, das eine unterhaltsame und allgemeinverständliche Einführung in die Psychiatrie ist und trete damit auch im Kabarett und im Fernsehen auf, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Psychisch Kranke sind viel spannendere Menschen als wir Normopathen, und das müssen die Leute mitkriegen.

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