Blind in Oberpleis Das tägliche Risiko

OBERPLEIS · Für Andrea Nell ist jeder Tag mit einer Mutprobe verbunden - eine Mutprobe, die tatsächlich ein tödliches Risiko birgt: Wenn die 37-Jährige, die vor vier Jahren ihr Augenlicht verloren hat, die Landstraße 143 bei Oberscheuren überquert, um die Bushaltestelle zu erreichen, kann sie sich auf nichts weiter verlassen als auf ihr Gehör.

 Auch für sehende Menschen ist die Überquerung der L 143 ein Wagnis. Andrea Nell kann sich nur auf ihr Gehör und Cindy verlassen.

Auch für sehende Menschen ist die Überquerung der L 143 ein Wagnis. Andrea Nell kann sich nur auf ihr Gehör und Cindy verlassen.

Foto: Homann

Mit Tempo 100 rasen die Autos über die zweispurige Fahrbahn. Eine Bedarfsampel, Zebrastreifen oder andere Querungshilfen gibt es an dieser Stelle nicht.

Auch für sehende Menschen ist die Überquerung der Landstraße nicht einfach, denn nicht einmal ein Bürgersteig ist in Fahrtrichtung Siegburg vorhanden. Für Andrea Nell ist der Weg ein gefährliches Wagnis. Auch ihr Blindenhund Cindy ist bei der Straßenüberquerung keine große Hilfe. "Ein Blindenhund kann zum Beispiel Bordsteinkanten und Zebrastreifen anzeigen. Die Führung kann er nicht übernehmen. Das Kommando muss immer ich geben", erklärt Nell.

Nicht einmal ein Hinweisschild auf Fußgänger weist Autofahrer auf die Situation hin. Andrea Nell leidet unter einer Augenerkrankung, die zum Absterben des Sehnervs geführt hat. Schon als Kind hatte sie eine stark verminderte Sehfähigkeit. Vor vier Jahren ist sie dann vollständig erblindet. "Ich bin morgens aufgewacht und hatte zunächst nur Blitze vor den Augen, von da an blieb es um mich herum dunkel." Als sie das Augenlicht verlor, brach für sie eine Welt zusammen. "Ich wusste zwar, dass es irgendwann auf mich zukommen könnte, aber als es dann soweit war, war ich zunächst maßlos überfordert."

Heute fühlt sie sich von der Stadt Königswinter im Stich gelassen: Bereits im vergangenen Jahr hatte sie sich an die Stadt gewandt. Man könne ihr nicht helfen, habe die Antwort der Behindertenbeauftragten gelautet. Nell hatte angefragt, ob es möglich sei, eine Bedarfsampel zu errichten oder sonstige Querungshilfen aufzubauen.

Die Stadt habe verschiedene Möglichkeiten geprüft, erklärte Stadtsprecher Ulrich Berres auf Anfrage des General-Anzeigers. Das Ergebnis: Eine Verlegung der Bushaltestelle in den Ort Oberscheuren sei nicht möglich, da der Linienbus dort keine Wendemöglichkeit habe. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der L 143 könne nicht herabgesetzt werden, denn da "sich die Bushaltestelle 'auf freier Strecke' an der Landstraße befindet", gilt dort als Höchstgeschwindigkeit 100 Stundenkilometer.

Auch bei einer Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit verbleibe - "im Hinblick auf die in der Nähe befindliche unübersichtliche Kuppe - ein zu großes Risiko für einen blinden Menschen, der sich ausschließlich auf sein Gehör verlassen muss". Ein solcher Eingriff bedeute ebenfalls nicht mehr Sicherheit für Andrea Nell. Auch eine zusätzliche Querungshilfe würde die Situation aus Sicht der Verwaltung nicht entschärfen. Für die Installierung einer Ampelanlage sei die Stelle nicht genügend frequentiert. Hier gelten "strikte Vorgaben", so Berres.

Bekommt Nell, die weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen möchte, keine Hilfe von der Stadt, bleibt der Weg zum Bus ein unkalkulierbares Risiko. Umziehen möchte die 37-Jährige nicht. Sie sei froh, überhaupt eine Bleibe gefunden zu haben.

Nell zog 2012 nach Oberscheuren, nachdem sie bereits längere Zeit nach einer Wohnung gesucht hatte. Vorher wohnte sie in Oberpleis. Als sie in Düren das Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte besuchte, war sie zwischenzeitlich dorthin gezogen. Dann starb ihr Hund und Andrea Nell wollte einfach nur zurück nach Königswinter.

Die Stadt stellte ihr eine Einkaufshilfe zur Verfügung, doch nur solange sie nach Düren pendelte. Nachdem Nell das Berufsförderungswerk verlassen hatte, stellte die Stadt die Hilfe wieder ein.

Vor einigen Wochen hätte es Andrea Nell dann fast erwischt. Beinahe wäre sie von einem heranrauschenden Auto erfasst worden. "Ich habe den Wagen noch gehört und musste Cindy ziehen, damit wir von der Straße kamen."

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