Untergang der Titanic Bad Honnefer überlebte Unglück vor 100 Jahren

BAD HONNEF · Alfred Nourney gehörte vor 100 Jahren zu den etwa 700 Geretteten des Untergangs der "Titanic" am 15. April 1912. 1954 berichtete er in der Honnefer Volkszeitung über die Geschehnisse heute vor exakt 100 Jahren.

 Ob auf dem Boden oder in der Luft: Alfred Nourney war auch Pilot (oben), und er fuhr Autorennen.

Ob auf dem Boden oder in der Luft: Alfred Nourney war auch Pilot (oben), und er fuhr Autorennen.

Foto: ga

Ein attraktiver Mann, dieser Alfred Nourney. Und das nicht nur nach den Maßstäben seiner Zeit. "Mein Vater war wohl das, was man heute einen Womanizer nennen würde", erzählt die Bad Honneferin Elke Dahmen lächelnd. Sie klappt das alte Album auf, zeigt Fotos mit der Patina der Jahrzehnte: Ihr Vater in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Spanien, neben sich eine unbekannte Schöne mit der typischen Mantilla auf dem Haupt.

Ihr Vater im Sessel, den Rücken schnurgerade, einen seiner geliebten Pinscher zu den Füßen. Und wieder ihr Vater, am Ruder eines abenteuerlich anmutenden Fluggerätes. "Eine Vergrößerung des Fotos hing in der Hamburger Speicherstadt am Eingang der Titanic-Ausstellung", berichtet Elke Dahmen: Der Bad Honnefer Alfred Nourney gehörte vor 100 Jahren zu den etwa 700 Geretteten des Untergangs der "Titanic" am 15. April 1912. Alfred Nourney überlebte diese Tragödie um sechs Jahrzehnte.

Alfred Nourney war Abenteurer

Wer war dieser Alfred Nourney, der viele Jahre nach dem Unglück im Nord-Atlantik als Endvierziger eine Familie gründete und mit ihr im beschaulichen Rhein-Städtchen Bad Honnef schließlich Hafen und Heimat fand? "Ein Abenteurer, das trifft es schon", sagt die ältere seiner zwei Töchter, Jahrgang 1940. "Mein Vater ist viel gereist, ist in der Welt herumgekommen, war Pilot, ist Autorennen gefahren. Ein Globetrotter."

Und ein Filou, ein selbst ernannter hauptberuflicher Gentleman, wie es im Nachgang der Geschehnisse des 15. April 1912 öfters heißen sollte. Ebenso, dass er offenbar unter dem falschen Siegel eines Barons reiste, als die Titanic zu ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt im englischen Southampton in See stach. Das jedenfalls scheint ein undatierter, deutschsprachiger Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft zu belegen, den Alfred Nourney in seinem Reise-Nachlass sorgsam aufbewahrte und den er so seiner Tochter hinterließ: In der Zeitung erschien eine Liste der Güter eines gewissen Barons Alfred von Drachstädt, die, so hieß es, mit der Titanic im Eismeer versunken waren. Und wofür jener Baron, so schrieb die Zeitung weiter, nun eine Entschädigung forderte von der britischen Reederei "White Star Line".

Ein Beleg, so der kleine Artikel, war die Liste allerdings auch dafür, was 1912 eben so zum Gepäck eines sich gut kleidenden Herrn gehörte - "alleine für Krawatten", so die Autoren vor annähernd einem Jahrhundert spitz, musste dabei offenkundig der Jahresverdienst eines hart arbeitenden Tagelöhners aufgebracht werden.

Vieles nahm er mit ins Grab

Wie genau sich der Abend des 14. April 1912 und die folgende Nacht abgespielt haben, viele Details dazu hat Alfred Nourney unzweifelhaft mit ins Grab genommen. "Von sich aus hat mein Vater nicht viel erzählt", sagt Elke Dahmen. Und als Kinder hätten sie auch kaum gefragt - zu wenig vielleicht, meint die Bad Honneferin heute rückblickend. Gleichwohl, beeinflusst hat sie dieser besondere Teil der Lebensgeschichte des geliebten Vaters doch: In der Titanic-Ausstellung war sie selbst nie, kennt diese nur aus Erzählungen. Und auch den Hollywood-Streifen mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio aus dem Jahr 1997 mochte sie "lange nicht anschauen", sagt Elke Dahmen.

Denn für sie ist der Kino-Kassenschlager von Regisseur James Cameron, der wie kaum ein anderes Werk den Mythos Titanic wieder entfachte und dieser Tage in 3-D-Bearbeitung neu anläuft, mehr als "ein Stück gut gemachte Unterhaltung". Er ist ein Stück Familiengeschichte. "Wenn ich dann diese Bilder sehe, bedrückt mich das besonders", ergänzt Elke Dahmen unter dem noch frischen Eindruck einer anderen verhängnisvollen Havarie fast exakt 100 Jahre nach der Titanic-Tragödie, jener der Costa Concordia am 13. Januar 2012 vor der Küste Italiens.

Verbrieft ist in der Familienchronik: Ermöglicht wurde Alfred Nourney sein Leben als Abenteurer durch seine Herkunft. Geboren 1892, wuchs er als Sohn begüterter Eltern in der Domstadt Köln auf. Weltoffenheit, Reiselust, Wissbegierde vor allem für alles Technische waren dem Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie eigen. Letzteres kam ihm beim Untergang des Flaggschiffes der "White Star Line" scheinbar zugute.

Wedeltreppe rettete Leben

"Mir hat eine kleine eiserne Wendeltreppe das Leben gerettet. Bei meinen Streifzügen durch das Schiff entdeckte ich sie. Ganz versteckt lief diese Wendeltreppe von der Kommandobrücke durch alle neun Decks hinunter bis zum Tennisplatz. Sie war nur für den Gebrauch der Schiffsführung bestimmt. Sie endete in einer Balustrade über dem Tennisplatz, von wo aus man den Spielenden zusehen konnte." Das berichtete der Titanic-Überlebende am 23. April 1954 in der "Honnefer Volkszeitung" (HVZ) im Interview mit dem Journalisten, späteren HVZ-Herausgeber sowie langjährigen Bad Honnefer Bürgermeister Franz Josef Kayser.

Ob es nun, wie von Alfred Nourney im Interview beschrieben, ein Tennisplatz war oder doch eher ein Squash-Court, wie es Pläne der RMS Titanic vielmehr nahelegen? Jedenfalls sei er über genau diese versteckte Treppe, die zum Aussichtspunkt über den genannten Sportplätzen führte, in dieser verhängnisvollen Nacht zum Oberdeck und dann zu den Rettungsbooten gelangt, berichtete der gebürtige Kölner 1954 in seinem wohl ausführlichsten Interview in seiner Wahlheimat Bad Honnef.

In Elke Dahmens Erinnerung mischt sich, was der Vater oft Jahrzehnte nach dem Geschehen in Zeitungen berichtete. Und was er etwa in einem Fernsehinterview sagte, zu dem ihn gleich die gesamte Familie in den sechziger Jahren nach Hamburg begleitete - "samt Hund, den mein Vater in einer Einkaufstasche mitnahm", berichtet Elke Dahmen schmunzelnd. Was Alfred Nourney geflissentlich verschwieg: Die teure Passage nach New York, die am 18. April 1912 an Bord der "Carpathia" enden sollte, ging zurück auf einen pikanten Anlass.

Reise zum "Hörner-Abstoßen"

Das Ticket hatte seine Familie gekauft, wohl, um eine Liebelei des Sohns aus gut-bürgerlichem Haus mit einer Angestellten zu unterbinden, die nicht ohne Folgen geblieben war. Während sich der junge Mann auf seiner Reise also scheinbar die Hörner abstoßen sollte, mischte er sich auf der Titanic unter die beste Gesellschaft derer von Guggenheim, Astor & Co.. Alfred Nourney, der am 10. April 1912 im französischen Cherbourg auf der Titanic eincheckte, buchte für 28 Pfund Aufpreis von der zweiten auf die erste Klasse um. Und telegrafierte dann bestens aufgelegt zu seiner Mutter nach Hause: "Fühle mich so wohl in meiner ersten Klasse."

Den Abend des 14. April 1912 schilderte Alfred Nourney, den der Luxus-Liner mit einer "Unmenge von Salons, vom blauen, roten, violetten Salon bis zum Mahagoni-Silber-Salon", "Schornsteinen wie Gasbehältern" und dem "Licht, das sich aus Tausenden von Luken und Fenstern ergoss", extrem beeindruckte, 1954 in der HVZ: "Ich werde diesen Sonntagabend, diese Nacht, nie vergessen. Als mich mein Steward telefonisch zum Dinner bat - das war in der Ersten Klasse so üblich -, legte ich meinen ersten Frack an. Meine Mutter hatte ihn mir eigens für die Jungfernfahrt der Titanic anfertigen lassen.

Ich hätte ihn besser nicht angezogen. Als ich den Speisesaal betrat, war ich der einzige, der einen Frack trug. Auf englischen Schiffen ist Sonntagabend keine Abendgesellschaft." Wenn auch keine Abendgesellschaft war, so Alfred Nourney, "so waren doch die Tanzsalons, die Bars und Cafés brechend voll". Nach "einem kleinen Bummel" gesellte er sich wenig später erneut im Rauchsalon zu mehreren illustren Herren beim Bridge, erinnerte er sich 1954. Überlieferungen, dass Alfred Nourney dem Kartenspiel alles andere als abhold, gar ein Zocker gewesen sein soll, hält seine Tochter Elke Dahmen entgegen: "Ich weiß nur: Wir haben ihn schon als Kinder immer ganz schön nass gemacht."

Erinnerung an die Kollision

Es geht auf Mitternacht zu. Kurz vor 12 Uhr geht auf einmal eine kleine kleine ächzende Bewegung durch das Schiff", beschrieb Alfred Nourney in der HVZ seine Erinnerung an die Kollision mit dem Eisberg. Es war der Beginn eines Untergangs, der wie kein anderes Unglück in der Geschichte der Seefahrt - trotz anderer, mancher sogar mit weit mehr Todesopfern - die Menschen bis heute beschäftigt und eindrucksvoller Beleg ist von menschlicher Überheblichkeit über die Natur. "Der Whiskey in den Gläsern schwankt ein wenig. Sonst nichts", berichtete Alfred Nourney. Während andere Passagiere davon offenbar keine Notiz nahmen, ein "jovialer Amerikaner" den Vorgang gar mit "It doesn`t matter" kommentiert habe, habe es ihm selbst keine Ruhe gelassen. "Ich hole meinen Mantel. An Deck ist es leer und unheimlich still. Nur der gleichmäßige Klang der Maschinen dringt herauf. Die Kälte schneidet mir scharf ins Gesicht. Schwarz und tot ist das Meer."

Dann "sticht mir ein seltsames Glitzern in die Augen, als ich vom Deck auf die Ladeluken hinabblicke. Eis. Auf den Ladeluken liegen Eisbrocken. Wie kommen sie dahin?" Die Antwort, so Alfred Nourney, gab Minuten darauf die Titanic selbst: "Da. Die Maschinen setzen aus. Totenstille. Was ist passiert? Ich stürze zur Treppe, die zum obersten Deck führt. Die Tür ist verschlossen. Mein Hirn arbeitet fieberhaft. Was jetzt? Die kleine Treppe", schilderte er 1954 in der HVZ die Minuten, die ihn wieder zu den Sportplätzen führten. Und: "Das Licht über den Tennisplätzen leuchtet auf. Was ist das? Wie eine spiegelnde blaugrüne Glasfläche steht Meerwasser über den Plätzen. Wasser im Schiff! Obenauf treiben ein paar weiße Bälle. Ab und zu ein leises Glucksen." Zufall oder Geistesgegenwart? Dichtung oder Wahrheit? Nur er selbst könnte diese Fragen beantworten.

Seine Schilderung in der HVZ jedenfalls lautete: "Ich jage zur Küche. Mit einer Flasche Whiskey und einer Handvoll Sandwiches kehre ich zurück." Über die kleine Wendeltreppe gelangte Alfred Nourney seinen eigenen Worten zufolge somit wieder zum Oberdeck und zu den Rettungsbooten, seine Schilderung ließ 42 Jahre nach dem Geschehen die Atemlosigkeit jener bangen Minuten nachempfinden. "Matrosen machen die Rettungsboote klar, ich packe mit an. 'Die ganze Schiffswand hat der Eisbrocken aufgeschlitzt. Wir saufen ab', höre ich. Die Titanic sinkt. Das größte Luxusschiff der Welt geht unter."

Schüsse an Bord

Dann herrschte Chaos, sagte Alfred Nourney 1954 der HVZ. Sogar Schüsse seien gefallen, als die Menschen an die Boote drängten. "Der hemmungslose Strom reißt mich mit fort. Am dritten Boot kann ich mich anklammern. Ein Stoß. Ich liege drinnen. Frauenstimmen schrillen auf. Kinderweinen, Stöhnen, Brüllen, Heulen. Die Menge ist blind vor Angst, rast, stößt sich gegenseitig von den Booten zurück. Frauen in Nachthemden, vor Kälte zitternd. Männer nur mit einer Hose bekleidet. Unser Boot ist als erstes zu Wasser. Nicht einmal alle Plätze sind besetzt. Oben auf Deck flutet die an den Booten vorbeigeschossene Menge zurück. Es sind viel zu wenig Rettungsboote da. Ein wahrer Hexenkessel. Menschen hetzten wie Tiere aufeinander. Die Masse ist nicht mehr zu halten. Weiße Notraketen zischen in den Himmel. Die Titanic neigt sich langsam nach vorn. Der Todeskampf hat begonnen." Es war der Todeskampf von annähernd 1600 Menschen.

Auch seinen letzten Blick auf das Schiff beschrieb Alfred Nourney in der HVZ eindringlich, wie seine Schilderung insgesamt denn auch nicht ohne ein Gutteil dramaturgisches Talent vonstatten ging: "Das Heck des wunden Riesen steigt hoch und höher. Immer noch zischen Raketen in den Himmel. Nirgends ist ein rettendes Schiff zu erspähen. Senkrecht steht das Heck in der Luft. Ein dumpfes Rollen. Der Gigant neigt sich zur Seite. Tiefer und tiefer.

Er sackt weg. Die Titanic hat ihre letzte Fahrt angetreten." Folgende Schilderung des Vaters hat sich Elke Dahmen allerdings besonders eingeprägt: "Er glaubte, Sirenen zu hören. Aber es waren die Todesschreie der Menschen." Alfred Nourney 1954 in der HVZ wörtlich: "Sie ringen in dem eiskalten Wasser mit dem Erstarrungstod. Wir können ihnen nicht helfen." Besatzungsmitglieder in "seinem" Rettungsboot Nummer 7 hätten dringend vom Zurückrudern abgeraten: "Es sind zu viele, die ziehen uns runter."

Drei Tage nach dem Unglück wieder an Land

An Bord der RMS "Carpathia", die als erste am Unglücksort eintraf, erreichte Alfred Nourney drei Tage später New York. Wie lange er dort blieb, weiß seine Tochter nicht. "Er muss aber bald heimgekommen sein", sagt Elke Dahmen. Sesshaft wurde Alfred Nourney, dem Wehr- und Kriegsdienst aus Gesundheitsgründen erspart blieben, erst viel später. Zunächst reiste er wieder, auch auf Schiffen, deren Ansichtskarten er aufhob - nur die der Titanic fehlt, sie war wohl mit untergegangen.

Mehrere Jahre lebte er auf der Iberischen Halbinsel, brachte seinen Töchtern später gar einige spanische Schimpfworte bei. "Ich habe es mal im Urlaub ausprobiert und war überrascht über die Wirkung. Ich wusste ja nicht, was es heißt", erzählt Elke Dahmen lachend. Seinen Ruhepunkt fand Alfred Nourney in der zierlichen Irmgard. Die beiden heirateten, 1940 und 1942 wurden die Töchter geboren. Die Familie zog nach Bad Honnef.

Dort erinnern sich auch frühere Nachbarn an der Alexander-von-Humboldt-Straße an den Bad Honnefer Überlebenden der Titanic-Katastrophe: Ein Herr sei er gewesen, stattlich noch im Alter. Er sei gerne spazieren gegangen und habe dann immer freundlich gegrüßt. Über die Titanic gesprochen habe er nicht. Den Lebensunterhalt für die Familie verdiente Alfred Nourney, der 1972 starb, bei der RKG. "Wir hatten eine schöne Kindheit, haben viel unternommen", erinnert sich Elke Dahmen lebhaft. Vielleicht, wer weiß, weil der Vater wusste, dass jede Minute zählte in diesem seinem neuen Lebensabschnitt. Denn in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 war ihm unzweifelhaft ein neuer Anfang geschenkt worden.

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