Interview mit Hochschullehrer und Autor Albert Wunsch "Eltern müssen auch Konflikte zulassen"

Alfter · Überfordert - zielstrebig - verwöhnt? Wie erziehen wir unsere Kinder zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten?" Unter diesem Titel spricht der Erziehungswissenschaftler, Hochschullehrer und Buchautor Albert Wunsch am Donnerstag, 29. Oktober, in der Freien Christlichen Grundschule in Oedekoven.

 Wenn Eltern schon dreimal gesagt haben, räum das Zimmer auf, war es schon zweimal zu viel, meint Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch.

Wenn Eltern schon dreimal gesagt haben, räum das Zimmer auf, war es schon zweimal zu viel, meint Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch.

Foto: dpa

Darüber, was Verwöhnen eigentlich ist, welche Themen Mütter und Väter besonders beschäftigen und wie Eltern und Lehrer an einem Strang ziehen können, sprach mit ihm Antje Jagodzinski.

Herr Wunsch, worin besteht für Sie eine gute Erziehung?
Albert Wunsch: Eine gute Erziehung besteht darin, dass Eltern und andere gesellschaftliche Kräfte die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein Kind, ein Jugendlicher mit 20, 25 Jahren eigenständig leben kann - emotional, sozial und finanziell.

Worauf kommt es da für Eltern und Lehrer an?
Wunsch: Sie müssen darauf achten, was in der Gesellschaft heute gebraucht wird, welches die Voraussetzungen sind, um am Arbeitsmarkt, in Partnerschaft und Familie sowie im Freizeit-Alltag gut bestehen zu können, und diese Voraussetzungen müssen sie an die Kinder herantragen. Das sind im wesentlich größeren Umfang soziale und emotionale Kompetenzen als fachliche Inhalte. Und die werden viel zu wenig vermittelt, sowohl im Elternhaus als auch in der Schule.

Vielleicht können Sie mal ein Beispiel nennen? Welche sozialen Fähigkeiten fehlen denn häufig?
Wunsch: Zum Beispiel die Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen. Dafür muss die Bereitschaft da sein, auf den anderen zuzugehen, ihm zuzuhören. Um das zu können, müssen die Menschen einmal eine gewisse Stabilität haben, um nicht bei jeder Frage sofort in die Verteidigung einzusteigen. Der zweite Punkt ist: Ich muss auch mit Divergenzen umzugehen lernen, also dass der andere eine andere Auffassung hat. Konflikte entstehen, wenn die Menschen keine Stabilität und zu wenig Transparenz im Umgehen miteinander haben. Das wären auch Voraussetzungen, die gerade Personalchefs haben müssten. Aber aus meiner Coaching-Arbeit kann ich sagen: Wie Chefs heutzutage mit Mitarbeitern umgehen, das ist zu häufig sehr desolat!

[Zur Person]Noch mal zurück zu dem, was Eltern und Lehrer tun können. Wie können sie denn fördern, dass ein Kind konfliktfähig wird?
Wunsch: Eltern müssten als erstes die Fähigkeit haben, Konflikte und Spannungen zuzulassen. Wenn zum Beispiel nicht gelernt wird, beim Abendbrot in Ruhe mit den anderen zu essen, wenn nicht gelernt wird, eine Sprechpause einzulegen, wenn Mama oder Papa telefonieren und mein Bedürfnis, dass ich gerne rausgehen möchte zum Spielen, auch mal fünf Minuten warten kann, dann haben diese Kinder später nicht die geringste Chance, mit Spannungen, mit Entbehrungen, mit Mangelsituationen oder Konflikten angemessen umzugehen.

Ist Verwöhnen denn per se etwas Schlechtes?
Wunsch: Ja.

Warum?
Wunsch: Sprachgeschichtlich kommt das Wort "Verwöhnen" vom mittelalterlichen "Verwennen", das bedeutet "an etwas in übler Weise gewöhnen". Und wenn es heißt, dass eine Familie mit verwöhnten Kindern in die Nachbarschaft zieht, habe ich noch nie gehört, dass jemand sagt: "Oh wie schön!"

Wann ist man denn verwöhnt?
Wunsch: Verwöhnt ist man, wenn man eigene Bedürfnisse nicht hinten anstellen kann, sich nicht in die Gemeinschaft einfügen kann, wenn man sich selbst als Mittelpunkt der Welt sieht.

Aber mal Hand aufs Herz: Lassen Sie sich selber nicht auch mal gern verwöhnen?
Wunsch: Wir haben im Erwachsenenkopf eine Reihe von Dingen, die wir mit Verwöhnen in Verbindung bringen, die aber eigentlich keine Verwöhnung sind. Einmal sind da die situationsbezogenen Sonderzuwendungen. Das heißt, in besonderen Situationen wie Geburtstag, Silvester oder Krankheit können die Uhren anders ticken. Aber es heißt nicht Verwöhnung sondern Zuwendung. Die orientiert sich am anderen, an seinen Bedürfnissen. Sich und anderen etwas Gutes tun, ist etwas unwahrscheinlich Notwendiges und Überlebenswichtiges. Aber das sollte ich nicht als Verwöhnen bezeichnen. Wenn die Werbung nicht seit 20, 30 Jahren uns den Verwöhnbegriff so positiv ans Ohr säuseln würde, wie mit dem Verwöhnaroma des Kaffee und auch jedes Körperpflegemittel, ein Kuchen und zarte Wäsche kann heute verwöhnen - dann hätten wir nicht die Einschätzung, dass Verwöhnung etwas Positives sei.

Sie sagen ja umgekehrt auch, dass Kinder und Eltern vielmehr Herausforderungen wagen sollten. Welche sind das zum Beispiel im Grundschulalter?
Wunsch: Das Kind sagt mittags, 'Mama, ich kann die Hausaufgabe nicht'. Dann sollte die Mutter fragen: 'Was genau kannst du denn nicht?' Wenn Du mich ganz konkret fragst, schreibt man zum Beispiel das Wort so oder so, dann kannst du zu mir kommen. Aber wenn du nur sagst, ich kann das alles nicht, dann musst du dies dem Lehrer sagen. Denn sonst macht die Mutter später jedes Mal zusammen mit dem Kind die Hausaufgaben, und das Kind kann keine Kultur der Eigenverantwortung entwickeln.

Wie können denn Lehrer und Eltern es schaffen, dass sie gut an einem Strang ziehen?
Wunsch: Gute Frage, schwere Frage. Die Eltern müssten sich umfangreicher als Partner von Schule sehen und umgekehrt. Die Lehrer müssten das Schild "Ich als Lehrer weiß es besser" von der Stirn nehmen, damit der Kontakt besser klappt. Und dann muss es möglich sein, über wichtige Erziehungsfragen miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn es geht um ein Kind, und die Schule kann nicht an der einen Ecke werkeln und die Eltern an der anderen.

Und wenn Sie solche Vortragsabende wie in Alfter machen: Welche Themen bewegen besonders?
Wunsch: Die Eltern fragen meist ganz konkret. Herr Wunsch, ich hab' 'ne achtjährige Tochter und die räumt ihr Zimmer nie auf, Herr Wunsch, mein Sohn kommt immer später als vereinbart nach Hause, was mache ich denn da? Die Muster sind oft vergleichbar und für 80 Prozent der Fälle gilt: Wenn Sie schon dreimal gesagt haben, räum das Zimmer auf, komm pünktlich, war es schon zweimal zu viel. Das Entscheidende ist, mit den Kindern Vereinbarungen zu treffen. Also gemeinsam übereinzukommen: Wie oft meinst du, muss das Zimmer aufgeräumt werden, und was gehört da alles dazu. Und wenn das Kind sagt, es ist aber mein Zimmer, dann frage ich mal nach dem Mietvertrag.

Kann das als Kernsatz, als Orientierung für die Erziehung dienen, dass Eltern und Kinder Vereinbarungen treffen?
Wunsch: Gemeinsame Vereinbarungen treffen und nicht Ansagen treffen, wie es sein soll, sondern auch klären, was passiert, wenn die Vereinbarung nicht eingehalten wird. Also wenn der Sohn beim Essen doch auf dem Handy rumtippt, ist das ?Superteil' halt am nächsten Halbtag in Quarantäne.

Also, vorher klarstellen: Was passiert, wenn...
Wunsch: Ja genau. Und jetzt bringe ich einen großen Sprung: Das hätte man auch bei der Vereinbarung für den Euro machen sollen.

Der Vortrag am 29. Oktober beginnt um 20 Uhr in der Freien Christlichen Grundschule, Schöntalweg 5.

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