Konzert im E-Werk Schall und Brauch

Tocotronic besinnen sich im Kölner E-Werk ihres rockigen Frühwerks.

In der Hamburger Schule darf auch gelacht werden. Natürlich kommt Dirk von Lowtzow nicht umhin, mit großer Geste dem Frohsinn Hallo zu sagen an diesem 11.11. in Köln, nicht aber ohne im nächsten Moment die Gitarre dröhnen zu lassen und lauthals auszurufen: "Du bist ganz schön bedient", ein Song aus der Frühphase der Band, als die Trainingsjacke noch obligatorische Oberbekleidung auf den Konzerten war und die Feuilletonchefs des Landes noch nicht jede Zeile der Band auf die Goldwaage gelegt haben. Schon weil sie sie gar nicht kannten.

Nach über 20 Jahren Band-Geschichte sind Tocotronic längst die Musterknaben des deutschen Denk-Pop. In ihrem jüngsten (titellosen) "roten Album" entdecken von Lowtzow und Co. neben Rebellion nun auch Romantik und, ja, Erfüllung. "Nur wenn wir unsere Herzen öffnen, können wir Liebe empfangen", säuselt der Frontmann im zugeknöpften blauen Hemd. Es ist ein Album voller Selbstreferenz, erneut aufwendig arrangiert von Produzent Moses Schneider. "Man kann den Erwachsenen nicht trauen, ihr Haar ist schütter, ihre Hosen sind es auch", heißt es, oder: "Verwohnte Liebe ist behaglich, doch ihre Hölle offenbart sich uns, unmittelbar."

Was auf dem Album in ausgetüftelten Klangspuren glasklar nachklingt, wird im E-Werk vom mächtigen Bass fortgespült. Überhaupt sind Tocotronic an diesem Abend angetreten, um die Befreiung aus dem Körperpanzer ("Aus meiner Festung") zu feiern. Mit "Digital ist besser" läutet schon der vierte Song den Zeitsprung ganz zurück in die Jahre der langen Scheitel und der schnodderig runtergeschrubbten Gitarrenbegleitung ein. Der ewige Jan Müller spielt den Bass noch immer mit reduzierter Attitüde, während Rick McPhail (damals noch nicht Teil der Band) mit der zweiten Gitarre die Songs nachhaltig in die Gehörgänge schraubt. Und Arne Zank ist Arne Zank.

Es sei schon schwierig, sich beim Älterwerden zu beobachten, hat Dirk von Lowtzow jüngst bekannt. "Wir gehen heute als Tocotronic. Die können nicht mehr", witzelt er jeck im nicht ganz ausverkauften E-Werk und streicht sich durch die ergrauten Haare. Blumen ins Publikum. Die Besucher nehmen die Rückbesinnung auf das Rockigste des Toco-Oeuvres jedenfalls dankend an. "Drüben auf dem Hügel" etwa, auch so ein Standardwerk, elegisch vorgetragen mit dampfendem Bass.

Die meisten Anhänger begleiten die Band erkennbar seit den frühen Jahren. Manch einer hat sogar schon den Nachwuchs dabei. "Alles ist so zyklisch, und dennoch unveränderbar."

Schon beim kleinen Releasekonzert im Frühjahr im Stadtgarten haben Tocotronic die Fans neben neuen Hymnen wie "Jungfernfahrt" oder Rebel Boy" auf der Erkenntnisreise weit mit zurück genommen. Dieses Mal steht auch das kulturpessimistische Standardwerk "Samstag ist Selbstmord" auf dem Programm. "Wer hat das Wochenende erfunden, die ganze Menschheit geht daran zugrunde."

Im Zugabeteil markiert das infernalisch vorgetragene "Explosion" eine Schallwand, hinter der sich jeder verkriechen kann. Nach rund Eindreiviertelstunden verabschieden sich Tocotronic mit "Pure Vernunft darf niemals siegen". Könnte das Festkomitee glatt unterschreiben. Aber damit ist in der Hamburger Schule doch etwas anderes gemeint.

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