"Accattone" in der Dinslakener Zeche Lohberg Ruhrgebiets-Folklore

Die Ruhrtriennale als Ensemble steinerner Industrie-Kathedralen begrüßt im Jahrgang 2015 ein vergessenes Geschwisterchen. Es handelt sich um die Zeche Lohberg in Dinslaken, bei der die Niedlichkeitsform allerdings fehl am Platz ist.

 Schienen, die ins Nirgendwo führen: Steven Scharf spielt den "Accattone".

Schienen, die ins Nirgendwo führen: Steven Scharf spielt den "Accattone".

Foto: dpa

Die dortige Kohlenmischhalle ist ein schweigender, von menschlicher Mühsal gezeichneter, naturbelassener und länglicher Riese. Seine Kleidung hat Löcher ohne Ende. Bislang stand er im Abseits des Festivals - was sollte es mit einem Raum, dessen Boden vor Kies, Staub, Schotter und Unkraut starrt?

Die Zeche Lohberg ist keine heilige Halle, sondern scheint so tot wie das Bahngleis, das über Hunderte von Metern - die Südwand fehlt - in Dornen am Waldesrand endet. Als jedoch Johan Simons, der neue Intendant, dieses stille Monster liegen sah, durchfuhr ihn eine Idee, und er rief: Hierhin gehört "Accattone". Hierbei dachte er zugleich ans Kino, ans Alte Testament und an das Gemurmel von Bestattern: Staub zu Staub.

"Accattone" ist ein Mythos: die Schwarzweiß-Tragödie des großen Regisseurs Pier Paolo Pasolini von 1961 über einen abgerissenen Kleinkriminellen, der wie ein Rabe klaut, sein Liebstes auf den Strich schickt und mit Freunden auf den sonnenbleichen Straßen einer römischen Vorstadt herumlungert - das alles zu bleiernen, extrem langsamen Klängen Johann Sebastian Bachs.

Für die Ruhrtriennale hat Simons dieses staubige Arme-Leute-Milieu dramaturgisch transplantiert; Koen Tachelet destillierte ihm eine Textfassung, welche das Rom vor 54 Jahren und die Dialoge des Films an die Hünxer Straße in Dinslaken umsiedelt. Wir im Publikum sitzen auf einer gewaltigen Tribüne vor der Nordwand und schauen in einen verlorenen Raum, dem die Nacht das Licht in der Ferne zunehmend stiehlt, bis wir mit Accattone und seiner Brut fast im Dunkeln sitzen.

Auf einem Podium an der Seite warten die wunderbaren Solisten sowie die Choristen und Instrumentalisten des Collegium Vocale Gent, bis sie der Dirigent Philippe Herreweghe zu Zwischenmusiken aus Bach'schen Kirchenkantaten, Violin-Solosonaten und der "Johannes-Passion" animiert. Es ist ein Paradies aus lauter Bach, doch über allen Tönen ist Tod, und fortwährend hört man es bußfertig singen: "Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer." Oder so ähnlich.

In Dinslaken liegen die Accattones wie bei Pasolini oft und nicht ungern im Staub. Links lauert eine Grube, rechts lädt schäbig ein Container zum Durchgangsbesuch ein. Restlicht fällt ungnädig von der Seite, als werde ein Sonnenuntergang für zwei Stunden und 15 Minuten angehalten und eingefroren. Zwischendurch schwärmt die Bagage, der Bach seine volle Barmherzigkeit, ja Veredelung angedeihen lässt, nach Süden hin aus, immer den Schienen nach, um linkisch mit vollen Müllsäcken oder Wiesenblumen zurückzukehren. Das alles sieht in seiner Lakonie und Tristesse fast malerisch aus.

Bach beglaubigt alles von höchster spiritueller Seite

Tatsächlich erleben wir eine Art Proletariats-Folklore, die weniger hoffnungslos als kunstgewerblich anmutet. Vom Leben getriebene Hungerleider sind diese Leute kaum, am wenigsten Steven Scharf in der Titelrolle, der fast reflektiert und souverän wirkt. Befällt so einen die Sehnsucht nach dem Ende?

Benny Claessens als Salvatore besitzt dagegen finsteres Potenzial. Diesem gefährlich durch die Welt sich schiebenden Schmerbauch mit Jammerstimme möchte man auch im Hellen nicht begegnen.

Und die Nutten? Auf hohen Absätzen geben sie sich untereinander kollegial. Ansonsten ergeht es ihnen wie ihren Kleidern: Sie rutschen ein bisschen, doch nie auf den Boden. Wenn ihnen Zeit bleibt und sie nicht gerade rauchend vor der Container-Baracke warten, raunen sie Regieanweisungen oder glotzen uns auf der Tribüne an, als sei in unseren Gesichtern mehr zu finden als der wachsende Verlust von Anteilnahme.

Gottlob macht die Zeche Lohberg gute Miene zum Spiel, der Raum wirkt natürlich einzigartig, wie ein alter, schmutziger Dom, dessen Besuch allein einem die Beichte abnimmt. Bach beglaubigt alles von höchster spiritueller Seite. Nach kurzem Applaus schreiten wir musikalisch erhoben, theologisch geläutert und mit dem Vorsatz, gern wieder nach Dinslaken zu kommen, durch den Staub Roms ins Flutlicht eines Parkplatzes am Rande des Ruhrgebiets.

Weitere Vorstellungen: 19., 20., 22. und 23. August. Karten und Infos im Internet unter www.ruhrtriennale.de

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