70 Jahre Kriegsende Schuld und Versöhnung

HAMBURG · Er war der "Rudi Dutschke von Bonn", Studentenführer der 68er-Bewegung, rotes Tuch für die Etablierten. Für Wirbel sorgte Hannes Heer vor 20 Jahren mit der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944". Der heute 74-jährige Historiker, Ausstellungsmacher, Buchautor und Regisseur lebt in Hamburg. Versöhnung, sagt er, gibt es nur auf individueller Ebene.

Die Versöhnung mit dem Vater kam spät. Nach all den vielen Jahren des Schweigens und der Verletzungen brachte er schließlich das Verständnis für den Vater auf, als beide, Vater und Sohn, schon alte Männer waren. Und es kam so plötzlich, dass Hannes Heer von einem Blitz spricht, der ihm durch den Kopf schoss.

Die Kommunikation war durch die Demenz des Vaters längst getrübt, doch durch all die sonderlichen Sätze, Splitter der Erinnerungen und befremdlich-liebevollen religiösen Ausrufe ("Jesus, Maria, in Ewigkeit, Amen!") drang immer wieder die Frage, ob der Sohn denn eine feste Stelle habe.

"Das war nicht als Vorwurf gemeint, dahinter steckte eine Sorge um den Sohn. Das war der Vater. Das habe ich vorher gar nicht so wahrgenommen, dass neben der politischen Ablehnung und der Scham, dass die Kollegen ihn im Forstamt foppten, wenn der Sohn, der linke Rebell, wieder in der Zeitung stand, vielleicht die Sorge überwog."

Hannes Heer, 74, streicht sich durchs graue Haar. Die Hamburger Wohnung ist voller Bücher. Regale im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, auf dem Flur.

"Als ich jung war, da habe ich nur seine Mitgliedschaft in der NSDAP gesehen, die Vorwürfe, die Missbilligung, dass ich nicht nach seinem Modell lebte. Ich sah nicht, so wie er, die Schwierigkeiten, mit denen man leben muss, wenn man sich als Linker in diesem Land exponiert. Das war aber das, was als Sorge im Vater vorging. Das habe ich erkannt. Und das hat bei mir innerlich eine Versöhnung herbeigeführt. Von da an habe ich ihn anders gesehen. Er ist in meinen Armen gestorben."

Hannes Heer. Man kennt ihn als den jungen Rebell, den Studentenführer, den "Rudi Dutschke von Bonn". Der Linke mit der scharfen Zunge. Ein rotes Tuch nicht nur für die Etablierten in der Bundeshauptstadt am Rhein. Gebildet, intelligent, angriffslustig, unbequem. Das war er sein Leben lang. Er ist der Inbegriff des "68ers".

Er gehört zu jener zornigen Generation, die die Elterngeneration genervt, sicherlich auch gequält hat mit Fragen nach ihrer Vergangenheit, mit Protesten und Demonstrationen, dem Ruf nach Veränderung, nach Öffnen des "Schweigekartells" der älteren Generation, nicht nach Bewältigung, sondern überhaupt erst mal nach der selbstkritischen Beschäftigung mit der jüngsten deutschen Geschichte.

1995 machte Hannes Heer ("Ich bin ein radikaler Demokrat") "das nächste Kapitel" auf, wie er es nannte. "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" - so hieß die Ausstellung, die er mit Bernd Boll und den österreichischen Historikern Walter Manoschek und Hans Safrian am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) konzipierte.

"Das ist, neben Auschwitz, der andere versuchte Völkermord, den wir akzeptieren müssen." Eigentlich war die Schau als einmalige Ausstellung in Hamburg geplant, doch sie machte so viel Furore, dass sie auf Wanderschaft ging. In vier Jahren sahen sie mehr als 900.000 Menschen. Und die Bilder verstörten, die einen machten sie nachdenklich, andere wütend.

Es gab gewalttätige Proteste in München, in Saarbrücken ging eine Bombe in der Ausstellung hoch, in Kiel gab es Krawalle Rechtsradikaler. In praktisch jeder Stadt wurde zum Protest und Boykott aufgerufen. Auch in Bonn.

Was viele irritierte oder erzürnte, waren die rund 1400 Fotos, die Wehrmachtsangehörige zeigten, die feixend vor Leichen Erschossener oder neben Massengräbern posierten, Schwarz-Weiß-Fotos, die wortlos die Geschichte von Erschießungen erzählten, wie die von zwei serbischen Jugendlichen aus Kragujevac, die sich zunächst von den Eltern verabschiedeten, dann vor eine Wand gestellt und erschossen wurden.

Oder schlicht 60 Passfotos, die stellvertretend für 2300 Opfer in dem serbischen Dorf standen. Bilder der Balkone von Charkow, von denen die leblosen Körper der Erhängten hingen, jüdische Zwangsarbeiter mit tellergroßen Sternen auf der zerlumpten Kleidung, die von der Wehrmacht bei Gleisarbeiten eingesetzt wurden.

Nicht selten stellten die Ausstellungsmacher die Originaltexte, die auf der Rückseite der Fotos vermerkt waren, darunter - Kommentare der Propaganda-Kompanien oder der deutschen Soldaten, die die Fotos gemacht hatten.

"Selbst für die Kugel zu schade", heißt es da einmal. Oder einfach: "Die hier gezeigten Juden wurden sofort erschossen." Bilder von hinter Stacheldraht zusammengepferchten Kriegsgefangenen und Bergen von hingerichteten Menschen, von "Partisanen" oder "Herumtreibern", von "Verdächtigen" und "Kommunisten". Erhängte Frauen, Männer und Kinder mit Schildern um den Hals.

Als sich dann zwei Fotos als falsch zugewiesen herausstellten und 20 Fotos Soldaten von kollaborierenden Ländern wie Ungarn oder Finnland zeigten, gab dies Nahrung für die Gegner der Ausstellung. In den Medien entwickelte sich eine wahre Artikelschlacht.

Historiker, die beschwichtigten ("Nur eine extrem kleine Anzahl von Wehrmachtsangehörigen war an Greueltaten beteiligt"), Zeitgeschichtler, die darauf hinwiesen, dass das doch alles gar nichts Neues sei, was Heer und seine Kollegen da zeigten.

Der Bonner Politikprofessor Hans-Adolf Jacobsen etwa kritisierte das Pauschalurteil der Ausstellungsmacher, um dann aber die "schmerzliche Einsicht" zu formulieren: "Die Wehrmacht als Ganzes war das ausschlaggebende Instrument nationalsozialistischer Gewalt- und Eroberungspolitik."

Subjektiv hätten wohl die meisten unter dem Eindruck gekämpft, ihre Pflicht zu erfüllen. Objektiv betrachtet, müssten sie indes eingestehen, dass sie "im historischen Verständnis auch Mittäter gewesen sind".

Ende 1999 zog HIS-Stifter Jan Philipp Reemtsma die Ausstellung zurück. Obwohl eine hochkarätige internationale Historikerkommission die Thesen und die Arbeitsweise von Heer und dessen Kollegen rehabilitierte, ließ der Vorsitzende des HIS ab 2001 eine neue und, wie Heer sagt, "von allen Tabubrüchen befreite" Ausstellung erarbeiten und trennte sich von dem alten Team.

Die alte Ausstellung liegt eingemottet im Depot des Deutschen Historischen Museums in Berlin und darf nur zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt, aber nicht mehr gezeigt werden, da die Rechte beim HIS liegen

Heer steht nach wie vor hinter der Ausstellung. "Es gab zwar vor uns Historiker, die sich mit den Verbrechen der Wehrmacht auseinandergesetzt haben", so Heer. Da gab es das Standardwerk von Christian Streit über die Ermordung von 3,3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener und die Studie von Helmuth Krausnick über den Judenmord der SS-Einsatzgruppen hinter der Front.

"Wir haben den von ihnen verübten ‚Holocaust auf freiem Feld‘ anhand der Fotos, die die Landser geknipst haben, zum ersten Mal dargestellt. Unsere Ausstellung hat erstmals in drei Fallstudien in Weißrussland und in der Ukraine gezeigt, wie die 27 Millionen Kriegstoten in der Sowjetunion zustande kamen."

Heer: "Für solche genozidalen Opfermassen, das war unsere These und der dadurch ausgelöste öffentliche Tabubruch, kommen als Hauptverantwortliche nur die 19 Millionen Angehörigen der Wehrmacht in Frage."

Die Ausstellung würde er heute exakt so konzipieren, sie aber um Kapitel wie Polen als Experimentierfeld des Völkermords, die unterschiedlichen Aufgaben von Wehrmacht und SS, die Mentalität der Soldaten und das Vergessenmachen der Verbrechen nach dem Krieg erweitern, sagt Heer, den der Spiegel mal als einen der besten Kenner des Zweiten Weltkriegs bezeichnete.

"Was geht in einem sowjetischen Kriegsgefangenen unter Tausenden von sterbenden Kameraden vor, was in deutschen Soldaten, die Frauen, Kinder und Alte in eine Dorfscheune treiben und diese dann anzünden? Was passierte emotional, als Millionen Angehörige der anscheinend unbesiegbaren Wehrmacht 1945 in alliierte Kriegsgefangenschaft gingen?"

Insofern habe auch seine Generation vielleicht doch eine etwas "holzschnittartige Vorstellung" vom Zweiten Weltkrieg gehabt. Heer denkt an seinen Onkel, der beerdigt auf dem Friedhof von Uckerath liegt, erschossen von Feldgendarmen der Wehrmacht in den letzten Kriegstagen als vermeintlicher Deserteur, weil er sich, mit zwei zerschossenen Händen, zu spät bei seiner Einheit zurückgemeldet hatte.

Die private Familiengeschichte mit der großen zu verbinden, das sei eine Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sagt Heer, der das zusammen mit seiner Frau ein paarmal im Jahr in therapeutischer Gruppenarbeit versucht.

Hannes Heer, der vor 25 Jahren noch mit einem "verspäteten Brief an meinen Vater" eine filmische Bilanz eines 68ers zog, der als SDS-Student vom Vater enterbt und verstoßen wurde, ist in der Auseinandersetzung mit seiner Familie sehr weit gekommen.

Heute kann er sagen, dass er viel von seinem Vater mitbekommen hat: Den Witz, die Selbstironie, die Kraft und Energie, "aber auch die Rigidität und Brutalität, ich bin in vielem wie mein Vater", sagt er. Unbewusste Nazi-Erbschaften nennt er das.

"Der Vater sitzt heute immer unsichtbar mit am Tisch. So hat das Bild sich verändert." Versöhnung gibt es, meint Heer. Sie funktioniert, wie dieses Beispiel zeigt, nur unter Individuen.

"Eine Versöhnung auf nationaler, kollektiver Ebene ist bei unserer Geschichte 1933 bis 1945 noch für lange Zeit nicht möglich. Und das Angebot dazu kann nur von den Opfern kommen."

So wie kürzlich beim Auschwitz-Prozess in Lüneburg? Da hatte Eva Kor, eine Überlebende des Konzentrationslagers, dem angeklagten früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung gereicht.

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