Flucht und Vertreibung nach dem Krieg Zeitzeugen berichten in der Synagoge

AHRWEILER · Schon 900 Schüler hat das Zeitzeugenprojekt "Kriegskinder", das Mechthild Hase vom Caritas-Verband Ahrweiler betreut, erreicht.

 70 Jahre nach Kriegsende berichten (v. l.) Edeltraud Wieneritsch, Friedel Besser, Gisela Schmütz und Eberhard Schimansky über ihre Kindheitserlebnisse.

70 Jahre nach Kriegsende berichten (v. l.) Edeltraud Wieneritsch, Friedel Besser, Gisela Schmütz und Eberhard Schimansky über ihre Kindheitserlebnisse.

Foto: Martin Gausmann

Dankbar für die persönlichen Erinnerungen waren auch die Gäste in der ehemaligen Synagoge, wo der Bürgerverein Synagoge und Partner 70 Jahre nach Kriegsende vier Tage lang Angebote zur Information und Besinnung machten, darunter "Kriegskinder erzählen vom Frieden". Nach einer Schweigeminute für jene, "die vor 1939 hier gebetet haben", stellte Hase den Zeitzeugen aus der Kreisstadt Fragen, um die Fülle des Erzählstoffs zu kanalisieren.

Als Kinder waren sie alle "Opfer im Täterdeutschland", haben viel Leid erlebt und früher kaum darüber gesprochen. Das Kriegsende bedeutete für sie noch lange keine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Die damals 15-jährige Edeltraud Wieneritsch aus Oberschlesien befand sich seit März 1945 mit ihrer Schwester im Arbeits- und Gefangenenlager der Polen und Russen in Auschwitz. Sie glaubte das Lager würde nun aufgelöst. Mitnichten - sechs Monate blieb sie dort, erblindete fast bei Schweißarbeiten zum Abbau der Bayer-Werke.

Eberhard Schimansky, seinerzeit neun Jahre alt, war mit Mutter und kleinen Geschwistern auf der Flucht von Oberschlesien in den Westen. Sie bewältigten, von ständigem Hunger begleitet, 400 Kilometer von Kreuzburg bis Fulda. Die beiden Jungen waren vor den Handwagen gespannt, in dem die zwei Schwestern saßen. Die in Kolberg (Pommern) geborene Gisela Schmütz, bei Kriegsende fünf Jahre alt, hoffte, "Papa kommt bald nach Hause".

Doch das dauerte. Aus der Heimat vertrieben - in zwei Stunden musste gepackt sein - kam sie mit der Mutter in ein Auffanglager zwischen Lübeck und Travemünde, wo sie fünf Jahre armselig hausten, ohne Privatsphäre, mit Ungeziefer: "Wir hatten nichts. Was wir brauchten, suchten wir auf der Müllkippe." Anderes Elend widerfuhr Friedel Besser aus Düsseldorf. Ab 1942 kam die Sechsjährige mit der vierjährigen Schwester durch die Kinderlandverschickung in vier fremde Häuser. "In einem Haushalt sind wir völlig verwahrlost", sagte sie, die bis zum zehnten Lebensjahr "keine Kindheit mehr hatte".

Kein Geschichtsbuch kann die Vermittlung von Mensch zu Mensch ersetzen. Obgleich die Zeitzeugen ruhig sprachen und das Erlebte so lange zurückliegt, wühlte es die Zuhörer auf, besonders, wenn schlaglichtartig traumatische Erfahrungen aufblitzten. Auf der Flucht wurden die Schimanskys in Plauen im Vogtland zweimal nach Bombenangriffen verschüttet, ein andermal warteten drei Geschwister bang, bis die Mutter einen verlorenen Bruder fand.

Friedel Besser hatte Alpträume von all den blutenden Verletzten, die sie sah. Wieneritsch litt unter der Demütigung, dass in Auschwitz beim Singen der polnischen Nationalhymne auf Polnisch, welches die Kinder nicht beherrschten, die Bewacher die Reitpeitsche schwangen. Das Schrecklichste aber war, im Hauptlager Birkenau Kleider, Schuhe, Brillen, Gebisse und Koffer der ermordeten Juden sortieren zu müssen. Als sie auf ihrem Entlassungsschein las, sie könne auch zukünftig "bei Staatsarbeiten" eingesetzt werden, floh sie Ende 1945 in den Westen.

Wirklich Frieden gab es für Gisela Schmütz, als sie 1950 das Lager verließ, der zwei Jahre zuvor aus der Gefangenschaft heimgekehrte Vater Arbeit fand und die Schwester zu ihnen stieß. Für Schimansky war es wohl der Beginn der Kaufmannslehre 1951, für Wieneritsch 1947 eine gute Stelle im Großhandel und für Friedel Besser die Geburt der jüngsten Schwester 1948 trotz der beengten Wohnverhältnisse. Die Kriegskinder haben das Erlebte allmählich überwunden und alle ihre Elternhäuser im Osten später besucht. "Ohne Rachegedanken" blickt Schimansky zurück.

"Ich habe mich ausgesöhnt mit den Polen", erklärt auch Edeltraud Wieneritsch. Nur so kann der Friede auch im Innern einziehen. Alle vier beurteilen die Zeitzeugenarbeit ausschließlich positiv. Es erweist sich als gegenseitiges Geschenk, denn die Erzähler sind berührt und dankbar für das anteilnehmende Interesse der Schüler.

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