Deutsches Staubarchiv Wolfgang Stöcker aus Köln jagt weltweit „museale Materie“

KÖLN · Am Anfang gedieh die Wollmaus prächtig. Unter Laborbedingungen gezüchtet, erreichte das Tierchen nach mehreren Versuchsreihen eine stattliche Größe von 15 Zentimetern. Der Pelz war von herrlich lockerer Konsistenz. "Aber dann wuchs sie nicht weiter, sondern fing an, in sich zusammenzufallen", sagt Dr. Wolfgang Stöcker, "und sie war auch nicht länger fluffig. Das mit ansehen zu müssen, war nicht schön." Nach und nach mutierte die Wollmaus zur Filzkugel.

 Der Sammler am Werk: Wolfgang Stöcker entnimmt einer Baustelle in Köln gegenüber dem Gürzenich historischen Staub für sein Archiv.

Der Sammler am Werk: Wolfgang Stöcker entnimmt einer Baustelle in Köln gegenüber dem Gürzenich historischen Staub für sein Archiv.

Foto: Thomas Brill

Was andere Menschen ärgert oder ekelt - Zusammenballungen von Haaren, Staub und winzigen Milben, die sich am liebsten unter Schränken oder Kommoden aufhalten - bereitet Stöcker Freude: "Die Wollmaus ist ein reines Kunstwerk." 2004 hat er in Köln das "Deutsche Staubarchiv" gegründet.

Unterstützt von 15 "Staub-Scouts" sammelt der Kunstgeschichtler und Künstler historisch bedeutsame Stäube aus der ganzen Welt. Bislang sind rund 350 Staubproben zusammengekommen, die Stöcker in sechs Untergruppen (Sakrale Stäube, Kulturstäube, Politik-Stäube, Kulinarische Stäube, Naturraumstäube, Musikalische Stäube) archiviert und im Internet dokumentiert. Das "Deutsche Staubarchiv" widmet sich auch der Forschung - beispielsweise der Analyse von Besen- und Abstellkammern -, kuratiert Ausstellungen, hält Vorträge und bietet Staub-Spaziergänge an.

Fündig werden die Staubfänger in Kirchen, Museen oder Rathäusern, auf Dachböden, in Weinkellern und Burghöfen, zwischen Ritzen, in Ecken oder, ganz prosaisch, auf der Straße. Staub ist überall. Aber nicht alles, was Staub ist, ist auch archivwürdig. Erst der Fundort macht die Materie museal: "Der Staub selbst ist lästig und nutzlos. Das zu koppeln mit Stätten von Bedeutung, die für Kunst und Kultur, Ordnung und Erhabenheit stehen, erzeugt eine Spannung und zugleich einen Bruch. Im Wertvollen ist auch das Nutzlose anwesend. Und wird dadurch erhöht. Ist nicht auch die Staubflocke auf einem Picasso Kunst?"

Kunst(räume) und Geschichte wollte der 44-Jährige, der seit 2003 in Köln lebt, schon immer zusammenbringen: "Eine Zeit lang habe ich über Friedhofskultur geforscht, in Archiven, und auch ein Buch darüber geschrieben." Das Wort Archiv hat ihn schon damals fasziniert: "Das klingt so schwer und getragen, etwas, was ich selbst gar nicht bin. Wenn ich sage, ich bin der Archivar, dann hat das etwas Ironisches."

Ehe Stöcker dem Staub verfiel, erwog er, Spinnweben zu sammeln, dann trug er Wasser aus legendären Flüssen zusammen. Aber als eine Flasche mit kostbarem Nass aus dem Loch Ness auf dem Küchenboden zerschellte ("Das hat vielleicht gestunken!"), fand das Projekt ein jähes Ende. Staub ist geruchsfrei, lässt sich platzsparend zwischen Aktenordnerdeckeln lagern - und erzählt dennoch Geschichte(n). Von Schiller und Goethe, die wieder vereint in der Fürstengruft zu Weimar ihre letzte Ruhestätte gefunden haben (Kulturstaub Nr. 18), bis zur Ergiebigkeit einer Stadt wie Bonn, in deren Umfeld vier prestigeträchtige Staubproben - vom Münster, dem Drachenfels, dem Museum Koenig und dem Keller der Universität - erbeutet werden konnten.

Streng genommen ist nicht alles, was in durchsichtigen, wieder verschließbaren "Archiv-Norm-Staub-Beuteln" aus Plastik aufbewahrt wird, wirklich Staub: "Zu vielem würden Biologen nie Staub sagen. Aber ich bin kein Naturwissenschaftler". Es gibt körnige, bröcklige, pulvrig-feine Archivalien, flockige, harzige und erdige, und solche, die Spuren von Rost, Lack oder Ruß enthalten.

Manche sind mit Moos, Sand oder Flusen vermengt, in anderen entdeckt man Insektenlarven, Spinnweben oder Holzstückchen. Auch die Wollmaus ist vertreten, genießt aber Artenschutz. Vielleicht deshalb, weil ihrer Eingliederung ins Staubarchiv ein grausames Prozedere vorangeht: "Bevor ich sie archiviere, muss ich sie platt machen. Das tut mir jedes Mal weh." Aus Gründen der Originalität können auch mal zwei Olivenkerne, Mörtelbröckchen oder ein Weinkorken in der Sammlung landen - weil sie von der Akropolis, dem Empire State Building oder einem historischen Weingut im Burgund stammen.

Dass Stöckers Staub-Scouts mitunter auch gefährlich leben, bekam ein Sammler aus seiner Crew im Opernhaus von Sydney zu spüren, als er von Sicherheitsleuten in Gewahrsam genommen wurde. Erst diverse Mails nach Deutschland und wieder zurück klärten den Sachverhalt - und der Scout wurde, mit Flusenprobe, in die Freiheit entlassen.

Außer historischem Wissen, Kunstsinn und einer philosophischen Neugier, gepaart mit Sinn für Humor, bringt der Archivar einen langen Atem mit. Wenn er eine spezielle Staubprobe haben will, lässt er nicht locker: "Den Sitz des Bundespräsidenten schreibe ich seit Herzog an, das Bundeskanzleramt seit Schröder." Eines Tages werden sich auch die Regierenden dem Mikrokosmos Staubarchiv nicht länger entziehen können. Zumal dessen Inhalt staatstragende Bedeutung besitzt: "Der Staub ist ein Demokrat. Er lebt in Hütten und Palästen. Wenn er sich ablagert, kümmert es ihn nicht, ob er das auf einem Rembrandt oder einer Werbetafel tut. Für den Staub sind alle gleich."

Ab Freitag, 7. November, ist das "Deutsche Staubarchiv" zu Gast im Stadtmuseum Siegburg, Markt 4, Geöffnet: Di. bis Sa. 10-17 Uhr, Sa. 10-18 Uhr, Mo. geschlossen.

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