Ehemaliger Polizeipräsident Wolfgang Albers "Köln war eine Zäsur. Vieles ist zerbrochen"

Wolfgang Albers war neun Jahre Bonner Polizeipräsident, anschließend Präsident in Köln. Bis man ihn wenige Tage nach der Silvesternacht des Amtes enthob. Ein Jahr hat er gebraucht, um sein Leben zu ordnen. Ein Gespräch.

 Kein Nachkarten, bitte: Wolfgang Albers beim Treffen mit dem General-Anzeiger im Bistro des Bonner LVR-Museums.

Kein Nachkarten, bitte: Wolfgang Albers beim Treffen mit dem General-Anzeiger im Bistro des Bonner LVR-Museums.

Foto: Benjamin Westhoff

Eine gespaltene Gesellschaft. Das Vertrauen in die Obrigkeit befindet sich im freien Fall. Die Bundesregierung steht vor der Zerreißprobe. Eine neue Partei nutzt die Stimmungslage, um zu wachsen und bald in den Bundestag einzuziehen.

Keine deutsche Momentaufnahme 2015 bis 2017, sondern eine Beschreibung der Bundesrepublik 1981/1982. Atomare Hochrüstung, Nato-Doppelbeschluss, Bundeskanzler Helmut Schmidt verliert zunehmend die Gefolgschaft innerhalb der SPD und am Ende den Koalitionspartner FDP.

Am 10. Oktober 1981 versammeln sich 300.000 Demonstranten auf der Bonner Hofgartenwiese. Ein halbes Jahr später, am 10. Juni 1982, sind es in der Beueler Rheinaue mehr als 400.000, während des Nato-Gipfels jenseits des Flusses im Regierungsviertel der Bundeshauptstadt.

Der DGB-Bundesvorstand verbietet im August 1981 seinen Gewerkschaften, zur Teilnahme im Hofgarten aufzurufen. Am Vortag beantragt die Unionsfraktion im Bundestag, die Friedensdemonstration als „gegen die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik“ gerichtet zu verurteilen. Und die Welt schaut interessiert zu. Time schickt ein halbes Dutzend Fotografen in den Hofgarten, druckt aber schließlich kein einziges Foto: „Ist ja nichts passiert“, heißt es enttäuscht im Bonner Korrespondentenbüro des US-Nachrichtenmagazins im ADAC-Haus an der B 9. Nichts passiert? „Keine Krawalle, keine Ausschreitungen.“

Mitorganisator der beiden Großveranstaltungen mit internationaler Prominenz aus Politik und Kultur: ein junger Bonner Student der Rechtswissenschaften namens Wolfgang Albers, Mitglied der Jungdemokraten, der linksliberalen Nachwuchsorganisation der FDP, die mit dem Schwenk der Mutterpartei von Schmidt zu Kohl und mit dem Erstarken von Guido Westerwelles Konkurrenzorganisation „Junge Liberale“ an Bedeutung verliert.

Der angehende Jurist verlässt aus Protest die FDP und wird nach dem Staatsexamen Sozialdemokrat. „Bei den Jungdemokraten habe ich sehr früh zwei Dinge gelernt: das Organisieren und das Tragen politischer Verantwortung.“ Was er bei den Großdemonstrationen unter Beweis stellte. Ohne Handy, ohne Mails.

Kooperation statt Konfrontation

Der Jurastudent verhandelte im Vorfeld auch mit der Bonner Polizei über Sammelpunkte, Zugwege, Rettungswege, Ordner, Sicherheit, Demonstrationsfreiheit für Hunderttausende. Kooperation statt Konfrontation: Im Präsidium an der Diplomatenrennbahn setzte man zu Hauptstadt-Zeiten auf eine Strategie der Deeskalation, die als „Bonner Linie“ Polizeigeschichte schrieb. Die hat den jungen Mann beeindruckt – auch wenn er nicht ahnen konnte, 20 Jahre später auf der anderen Seite des Schreibtisches zu sitzen, von 2002 bis 2011 als Bonner Polizeipräsident. Seither hat sich viel verändert. Für Wolfgang Albers. Und in der gesamtdeutschen Gesellschaft.

2017. Der 61-Jährige bringt seine Frau zum vereinbarten Treffen mit. Während unser Fotograf den in München geborenen Spross einer Bremer Kaufmannsfamilie die ersten Minuten im Bistro des LVR-Museums mit Beschlag belegt, sagt Grundschullehrerin Christiane Albers: „Ich sage Ihnen das ganz ehrlich: Ich war dagegen, dass er sich mit Ihnen trifft. Dass er sich überhaupt mit der Presse trifft. Weil ich nicht will, dass er erneut verletzt wird. Das hat er nicht verdient.“

Als der Fotograf geht und Albers sich wieder neben seine Frau setzt, packt er die mitgebrachte Papiertüte aus. Bunte Sticker von den Demos, seine beiden Ordner-Armbinden, die erste noch mit Filzstift handgemalt. Sind Sie eigentlich Pazifist? „Nein. Ich war es auch nie. Ich war als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr und später aus politischer Überzeugung gegen die Abschaffung der Wehrpflicht, so wie ich damals aus politischer Überzeugung gegen die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen war.“

Seelische Verletzungen

Heinrich Böll sagte an jenem 10. Oktober 1981 im Hofgarten, der Patriotismus sei eine viel zu wichtige Sache, als dass man sie den Rechtsextremen überlassen dürfe. Was berührte Albers am stärksten? „Es gab einen Moment, da mussten wir wissen, was gerade in den Nebenstraßen passiert. Und da haben wir über Lautsprecher 300.000 Menschen gebeten, mal für einen Moment ruhig zu sein. Auf der Stelle waren 300.000 Menschen ganz still. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke.“

Die seelischen Verletzungen, von denen seine Frau sprach, müssen schwerwiegender gewesen sein, als sich Albers dies in dem folgenden fast dreistündigen Gespräch anmerken lassen will. „Ich werde nicht nachkarten“, sagt er zu Beginn. „Ich werde keine schmutzige Wäsche waschen.“ Kein einziges Mal lässt er sich zu einem bösen Wort über Düsseldorfer Landespolitiker oder Kölner Polizisten hinreißen. Über erstere will er gar nicht reden; über letztere, die Beamten der größten Polizeibehörde des bevölkerungsreichsten Bundeslandes in der viertgrößten Stadt Deutschlands, sagt er: „Ich habe dort in überwiegender Zahl ausgezeichnete und hoch engagierte Polizisten kennengelernt.“

Wer ältere Polizeibeamte im Ramersdorfer Präsidium auf den ehemaligen Bonner Präsidenten anspricht, dem offenbart sich unisono folgendes Bild: ein loyaler Staatsdiener preußischer Anmutung – und ein Vorgesetzter, der sich stets mit breiten Schultern vor seine Leute stellte. Vielleicht wurde ihm diese bei Führungskräften nur noch selten vorzufindende Loyalität nach oben und unten in den Tagen nach der Kölner Silvesternacht zum Verhängnis.

Ein einziges Mal stellte er seine grundsätzliche Haltung zurück – im Interesse eines höheren Gutes: als ihm 2015 das bizarre Aufnahmeritual des Kölner SEK 3 bekannt wurde. Neulinge in der Elitetruppe wurden in Kostüme gesteckt, sie mussten auf dem Boden kniend Ekelerregendes essen, sich eine Tauchermaske überziehen, in deren Schnorchel Alkohol gefüllt wurde. Albers fackelte nicht lange, löste das SEK 3 auf und versetzte die Mitglieder in andere Einheiten.

Albers schweigt zu Silvesternacht und SEK-Affäre

Die zuständige Staatsanwaltschaft Aachen stellte das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ein, weil die Neulinge sich „freiwillig“ dieser entwürdigenden Prozedur unterzogen hätten. Für den praktizierenden Christen Albers spielte die strafrechtliche Bewertung keine Rolle bei seiner moralischen Bewertung: „Ich bin nicht Präsident eines Junggesellenvereins“, sagte er 2015. „Diese Rituale liegen außerhalb der Wertevorstellungen der Polizei.“

Der Personalrat lief Sturm gegen die Entscheidung des Präsidenten. Gutachter und Ex-LKA-Direktor Wolfgang Gatzke erklärte im Untersuchungsbericht: „Rituale fördern Zusammenhalt und Leistungsfähigkeit ... Am Ende ist der Beamte integriert und erhält Wertschätzung.“ Was den CDU-Landtagsabgeordneten Gregor Golland zu dem Satz animierte, Albers habe eine „schnelle Vorverurteilung“ betrieben.

Was hat die SEK-Affäre mit den Folgen der Kölner Silvesternacht für Wolfgang Albers zu tun? Vielleicht nichts. Vielleicht eine Menge, meinen Insider. Albers schweigt auch hierzu.

Rette sich, wer kann, lautet das Motto in den ersten Januartagen des Jahres 2016. Und: Wir brauchen jetzt schnell einen Sündenbock. Damit einer reicht.

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker geht schon wenige Tage nach Silvester auf Distanz zum Polizeipräsidenten. Dabei war es ihre Stadtverwaltung, die im Vorfeld die eindringliche Bitte der Polizei, die Hohenzollernbrücke an Silvester für Fußgänger zu sperren, rundum ablehnte. Eine Fehlentscheidung, die sich rächen sollte.

Thomas de Maizière poltert

Bundesinnenminister Thomas de Maizière, schwer angeschlagen wegen der unzureichenden Bewältigung der Asylbegehren in der zweiten Jahreshälfte 2015, poltert am 5. Januar 2016 in den ARD-Tagesthemen: „So kann Polizei nicht arbeiten.“ Natürlich meint er damit nicht seine (für den Hauptbahnhof zuständige) Bundespolizei, sondern die Kölner Behörde. Dabei war vereinbart, dass die Bundespolizei an Silvester den Bahnhofsvorplatz unter Flutlicht setzt. Doch die Geräte treffen nicht ein; die Bundespolizei hält sie an der Grenze zu Österreich für sinnvoller eingesetzt.

Zur Vorgeschichte gehört auch ein Unterstützungsgesuch der Kölner Polizei an das Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste (LZPD) in Duisburg. Eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei fordern die Kölner für Silvester an. Die Antwort aus dem LZPD: „Der Kräfteanforderung vermag ich nicht vollumfänglich zu entsprechen.“ Heißt übersetzt: Die Bitte der Kölner ist völlig überzogen. LZPD-Direktor Jürgen Matthies wird im Januar 2016 zum Nachfolger des von NRW-Innenminister Ralf Jäger geschassten Polizeipräsidenten Wolfgang Albers ernannt. Die beiden Polizeigewerkschaften äußern sich erfreut über Jägers Personalentscheidung.

1800 Polizisten waren beim Jahreswechsel 2016/2017 im Einsatz, um die Sicherheit rund um Dom und Hauptbahnhof zu gewährleisten. Hätte Albers diese Kräfte im Jahr zuvor bekommen? „Lassen Sie uns lieber über etwas anderes reden.“ Aber die Nacht beschäftigt ihn immer noch, das ist seiner Mimik deutlich anzumerken.

„In unserer modernen, technisierten Welt unterliegen wir der irrigen Vorstellung, alles sei erklärbar und beherrschbar. Hätten wir das Grauen verhindern können? Man wusste, welches Martyrium Frauen drei Jahre zuvor auf dem Tahrir-Platz in Kairo erlitten. Hätten wir damit rechnen müssen, dass dies mitten in Köln geschehen kann? Nicht auf den Ringen, wo wir aus Erfahrung viele Kräfte konzentrierten, sondern im Schatten des Doms!“

Briefe an Verbrechensopfer

Verantwortung ist für Albers ein bedeutender Wert. In früheren Zeiten hatte er Verbrechensopfern Briefe geschrieben. Die Opfer der Silvesternacht bat er öffentlich um Verzeihung. „Ich habe den Medien frühestmöglich mitgeteilt, dass die Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum stammen. Es wurde aber da nicht geschrieben. Später warf man mir vor, es verschwiegen zu haben. Außerdem wurde mir vorgeworfen, zu vorsichtig zu formulieren. Aber für mich galt immer der Grundsatz: Das, was ich heute sage, muss morgen noch richtig sein.“

Ein weiterer Satz wurde Albers angekreidet: „Es wird ganz schwierig, die Täter zu ermitteln.“ Das war zwar ehrlich und realistisch. Aber politisch nicht angesagt. Andere geben sich da forscher. Innenminister Jäger erklärte Anfang Januar 2016 vollmundig: „Wenn ein ermittelter Täter ausreisepflichtig ist, wird das konsequent durchgeführt.“ Seit dem Massaker auf dem Berliner Weihnachtsmarkt wissen wir, wie sich das mit der Konsequenz in NRW verhält. Und Albers behielt mit seiner Einschätzung recht: Vor weniger als drei Wochen, am 30. Januar 2017, wurde das erste Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen.

Die Medienwelt in der Millionenstadt Köln sei eine andere als jene, die er zuvor in Bonn erlebte, sagt Albers. „Bei Pressekonferenzen hatte ich oft das Gefühl: Die haben ihre Geschichte schon längst im Kopf geschrieben und warten nur noch auf die passenden Zitate.“

"Köln war eine Zäsur"

Immer noch zu schaffen macht ihm, wie sich das gesellschaftliche Klima in der Republik veränderte. „Köln war eine Zäsur. Vieles ist zerbrochen. Vertrauen ist zerstört. Als Christ kann ich Frau Merkels humanitäre Entscheidung im Sommer 2015 gut nachvollziehen. Aber es ist viel zu wenig unternommen worden, um dies zu bewältigen.“

Ein Jahr hat der vierfache Großvater gebraucht, um seine Suspendierung zu bewältigen, sein Leben zu ordnen. „Meine Familie hat mir viel Halt gegeben.“ Seit vergangenem Monat praktiziert er als Rechtsanwalt in der Bonner Kanzlei Eimer Heuschmid Mehle und engagiert sich seit seiner Wahl im Januar ehrenamtlich in der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Was gibt ihm der Glaube? „Ich gehe gern in die Kirche, weil dort oft Kluges gesagt wird.“ Und dann fällt ihm spontan noch ein Satz ein: „Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“

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