Kölner Silvesternacht Ganz kleine Lichter

Köln · Silvester in Köln: Am Mittwoch standen die ersten drei Diebe vor Gericht. Sie zogen mit Bewährungsstrafen von dannen – und ließen die großen Fragen unbeantwortet.

Die Jeans schlackern um ihre dürren, kurzen Beine, die wattierten Anoraks halten sie wie schwarze Schutzwesten die ganzen zwei Verhandlungsstunden über an. So sehen sie also aus, zwei von über 1100 jungen Tätern, die Silvester in Köln im Schutz von Mob, Menschenmassen und Feierlaune Passanten umzingelt und beklaut haben. Zwei von vielen, deretwegen Deutsche Vorräte an Pfefferspray aufkaufen, ängstlich ihre Armlänge testen, zänkische Grundsatzdebatten anzetteln. Und nun das: Statt zwei Testosteron-Protzen nehmen da Hänflinge vor der Richterin Platz, zittrig bemüht, ihre Gesichter hinter Pappmappen vor dem massiven Blitzlichtgewitter der Presse zu verstecken.

Auf der Hohenzollernbrücke sind die beiden erwischt worden, als sie einen indischen Touristen erst ablenkten, dann die Fototasche stahlen und ihre Beute an zwei unbekannte Männer weiterreichten. Die machten sich damit aus dem Staub, die zwei Angeklagten aber wurden von Passanten festgehalten und der Polizei übergeben. Wer also sind sie? Was treibt sie an? Fast wichtiger als die Strafen, die auf beide warten, sind die Antworten, die sie einer zutiefst verunsicherten Stadt geben könnten. Doch sie denken gar nicht daran.

Balkadi soll der eine von ihnen heißen, ein stiller Junge, der mit offenem Mund vor sich hinstarrt, kaum zu begreifen scheint, was der Dolmetscher ihm zuraunt. Zur Tatzeit soll er 17 Jahre alt gewesen sein. Doch in seinen Akten finden sich nur wirre Angaben – mal heißt er Balkadi, mal wieder nicht, mal wurde er 1993, mal 1994 geboren. Mal hat er sich als Algerier, mal als Tunesier ausgegeben. Einen Ausweis besitzt er nicht. „Wie soll er denn nun heißen?“, fragt Richterin Julia Roß den Anwalt Florian Storz. Der kann auch keine definitive Antwort zur Identität des Jungen geben. Außer: „Das ist mein Mandant.“ Die Mundwinkel der Richterin formen sich zu einer schmalen, frustrierten Linie.

Der Dolmetscher wendet sich nun nach rechts, zum zweiten Angeklagten, der zwar auch kein Deutsch spricht, aber immerhin alphabetisiert ist. Samir S. war zur Tatzeit 18. 2015 aus Marokko geflohen, weil sein Bruder einem Anderen im Streit ein Auge ausgestochen hat und die Opferfamilie nicht die Haft des Bruders abwarten wollte, sondern an ihm, dem kleinen Bruder, Vergeltung gesucht hat. Eine Narbe vom Haaransatz zum Kinn soll Beweis für diesen Racheakt sein. Samir flieht aus Angst, kommt nach Deutschland. Wegen der schlechten Bedingungen in seiner Dortmunder Asylbewerbeunterkunft schlüpft er bei Landsleuten unter, die bereits staatliche Gelder als Asylsuchende erhalten. Lebt mit drei anderen in einem Zimmer einer Dortmunder Wohnung. Von was, das bleibt weitestgehend offen.

Silvester fährt er – angeblich spontan – nach Köln, findet – angeblich spontan – am Ausgang des Hauptbahnhofes Kontakt zum zweiten Angeklagten. Sie verabreden sich, „zur Brücke zur gehen“, dem Ort, an dem sie später den indischen Touristen überrumpeln und ausrauben. Die Richterin fragt genau nach: Wie spontan? Warum zur Brücke? Warum die Reise nach Köln – gibt es denn in Dortmund kein Silvester-Feuerwerk?

Schon mehrfach ist Samir S. mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Vergangenen März lässt er beim Herrenausstatter Anson's in Dortmund zwei Hosen im Wert von 59,90 Euro mitgehen; bei Footlocker klaut er ein T-Shirt. Als die Polizei den Ladendieb festsetzen will, wehrt er sich, schlägt absichtlich mit dem Kopf gegen einen Türrahmen. Am nächsten Tag klaut er einem Reisenden im ICE den Koffer. Am Bochumer Hauptbahnhof wird er samt Beute abermals festgesetzt. Samir S. gesteht alles, sogar die Sache mit dem geklauten T-Shirt, das im Laden im Endeffekt wohl doch nicht vermisst wurde.

Weitere Fragen möchte auch er nicht beantworten. „Da lernt man sich kennen und verabredet sich spontan zum Ladendiebstahl“, bohrt Richterin Ross mit ziemlicher Fassungslosigkeit nach. Sie trägt Perlenkette, Anwalt Ingo Lindemann Cowboystiefel. „Ja“, sagt der zur Erklärung, „in den Lebensverhältnissen dieser Menschen treffen Leute aufeinander, die tatgeneigt sein mögen.“

Warum gerade in der Silvesternacht so viele Nordafrikaner am Kölner Hauptbahnhof waren, kann sich keiner der Angeklagten erklären. Beide wissen, dass ihre Asylanträge abschlägig beschieden werden, beide bitten um eine zweite Chance. Beide sitzen seit dem 1. Januar in Untersuchungshaft – ohne Deutschkenntnisse keine einfache Situation.

„Wie soll es weitergehen“, fragt Richterin Ross, „was wollen Sie machen, wenn Sie Ihre Strafe verbüßt haben? Warum gehen Sie nicht in Ihre Heimat zurück, wenn Sie wissen, dass Ihr Asylantrag abgelehnt wird?“ Sie muss hier über Nullachtfünfzehn-Straftaten richten, über zwei kleine Fische. Auch sie will begreifen, was diese zwei Mosaiksteinchen über die Psychologie und Dynamik des Ganzen sagen können, über jenen Mob, der binnen weniger Stunden so viel Schrecken angerichtet und in Folge eine saftige, gesellschaftspolitische Krise ausgelöst hat. In der Öffentlichkeit fordern viele unterdessen mehr als nur Antworten – sie wollen die härtesten denkbaren Strafen, ein krasses Exempel, ein Ende der „Kuscheljustiz“, die sich Kölner Richter unlängst vorwerfen lassen mussten. Gegen Populismus können Letztere sich gut wehren, klebriger aber kommt die Mitleidsfalle daher.

Schon am frühen Morgen war ein 23-jähriger Marokkaner im gleichen Sitzungssaal zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Anwalt Storz, der nun den stummen Mann mit den vielen Identitäten vertritt, hatte schon da kein Verständnis. „Hier ist die ganze Zeit so verhandelt worden, als ob mein Mandant für die ganze Silvesternacht verantwortlich zu machen ist“, polterte er medienwirksam. Dabei sei er doch nur ein ganz kleines Licht, eine „Wurst“.

Richterin Ross zieht sich zur Urteilsfindung schließlich ungewöhnlich lange zurück. Dem Mehrfachdieb Samir S. brummt sie eine Jugendstrafe zur Bewährung auf – konkret und fällig wird sie erst, wenn er sich erneut strafbar macht. Dem Jungen mit den vielen Namen verhängt sie drei Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung und lehnt die geforderte Geldstrafe des Verteidigers ab („Ich weiß ja nicht mal genau, wer der Angeklagte ist oder wohin ich die Rechnung schicken soll!“).

Samir und sein Kumpel sind nun frei und nur zu drei Dingen verpflichtet: sich bei der Ausländerbehörde in Dortmund zu melden und den Status ihrer Asylanträge abzuwarten, 60 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten und einen Deutschkurs zu absolvieren. Ob das die Beiden auf den richtigen Weg bringt? Mit den Zweifeln, die in der nachdenklichen Frage von Richterin Roß mitschwingen, dürfte sie nicht allein sein.

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