Freiheitswochen in Ahrweiler „Was müsste Luther heute sagen?“

AHRWEILER · Heiner Geißler sprach über den Reformator, die Kirchen und die Freiheit. Der 87-jährige Politiker und Publizist hält die deutsche Demokratie für nicht gefährdet.

 Eindringlich und engagiert: Heiner Geißler in der ehemaligen Ahrweiler Synagoge.

Eindringlich und engagiert: Heiner Geißler in der ehemaligen Ahrweiler Synagoge.

Foto: Martin Gausmann

„Jeder intelligente Katholik ist im Innern auch immer ein Protestant.“ Dieser provokante Satz stammt von Heiner Geißler, der am Montagabend den 2. Ahrweiler Freiheitswochen sein prominentes Gesicht lieh. Weil diese Wochen im Luther-Jahr im Zeichen von „Reformation – Reformen der Gesellschaft“ stehen, war der Bundesminister a. D., frühere CDU-Generalsekretär, Schlichter, Preisträger, passionierte Bergsteiger und Bestsellerautor Geißler mit seinem neuen Buch „Was müsste Luther heute sagen?“ in die Ahrweiler Synagoge gekommen.

Der 87-Jährige sollte es in den kommenden zwei Stunden nicht einmal aufschlagen, denn aus der angekündigten Lesung wurde seine ganz persönliche Schilderung der Annäherung des Jesuitenschülers und Katholiken Geißler an den Reformator. Seine Gedanken formulierte er zu einem Plädoyer für die Frauenrechte und gegen den Krieg sowie zu harscher Kritik an beiden christlichen Kirchen, die unbeweglich keinen Widerstand gegen die leisten, die die humane Welt mit Füßen treten. Geiz, Gier und Geld, sprich der Kapitalismus, seien die Hauptursache für das Elend auf der Welt.

„Die Kirchen müssten sich einig sein im Ziel, die Botschaft des Evangeliums zu transportieren. Gottes- und Nächstenliebe sind gleichwertig. Doch sie mobilisieren derzeit nicht die geistige Macht, die sie haben.“ Und zu einem Zuhörer gewandt, der befürchtete, dass alle Appelle verhallen: „Der Druck muss von unten kommen durch mutige Männer und Frauen. Schließen Sie sich einer Partei an oder gründen Sie eine, denn es gibt keine Demokratie ohne Parteien. Die Zeit nach 1945 ist eine Erfolgsstory. Ihr Ahrweiler Thema 'Freiheit' ist heute besonders aktuell. Trotzdem halte ich unsere Demokratie nicht für so gefährdet, wie immer gesagt wird. Sie ist stabil, denn die Mehrheit der Bevölkerung sagt 'Ja' zu ihr. Wer einen Nationalstaat fordert, kann perverser und dümmer nicht denken.“

Zunächst hatten Ghazel Wahisi, die zweite Vorsitzende des Fördervereins Ahrweiler Freiheitswochen, und Klaus Liewald vom Synagogenverein den prominenten Gast begrüßt. „Sie haben in Maria Laach auch schon vor 500 Menschen gesprochen. Wir haben uns bewusst für diesen kleinen, aber historischen Ort mit symbolhafter Kraft entschieden, wo exakt 70 Jahre nach Kriegsende auch der Förderverein gegründet wurde“, so Liewald. Die 150 dicht gedrängt sitzenden Zuhörer gratulierten Geißler mit einem Applaus zu seinem 87. Geburtstag am 3. März. „Ich höre nicht mehr ganz so gut und ich habe gerade eine Grippe hinter mit. Daher erlauben Sie, dass ich sitzenbleibe.“

Ansonsten präsentierte sich der Mann, der als einer der besten politischen Redner der Bundesrepublik gilt, hellwach. Er sprach von seiner Großmutter Theresia aus Oberndorf/Neckar, die dem Pfarrer ein Kuvert mit 20 Reichsmark zusteckte, um 500 Tage weniger im Fegefeuer zu landen. Oder von den Bundestagswahlen 1965, als er tollkühn im protestantischen Tübingen kandidierte und gewann. „Der Grund war klar: Die CDU hatte einen ausgewiesenen Protestanten als Kanzler zu bieten: Ludwig Erhard.“ Auch wenn Luther „in fürchterlicher Weise gegen die Juden geschrieben hat und in diesem Jubiläumsjahr sich die Christen beim jüdischen Volk entschuldigen müssten für all das, das ihm über Jahrtausende widerfahren ist: Es war revolutionär, das Predigeramt für die Frauen zu öffnen. Dem hinkt die katholische Kirche heute noch 500 Jahre hinterher.“ Was müsste Luther heute sagen? „Gebt den Unfehlbarkeitsanspruch auf, beseitigt das Zölibat. Das Erzübel der Kirche ist die Kurie. Ich hoffe, dass der Papst ein paar Schritte weiter geht.“

Heiner Geißler: „Was müsste Luther heute sagen?“, ISBN: 978-3-548-37679-0; Ullstein Taschenbuchverlag, 12 Euro.

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