Ihr Selbstmord sollte Schlimmeres verhindern

Marie Kahle aus Bonn half mit ihren Söhnen nach der Reichspogromnacht einer Jüdin: Das wurde ihr zum Verhängnis - Nationalsozialisten zwangen die Familie zur Flucht ins Exil

Ihr Selbstmord sollte Schlimmeres verhindern
Foto: Heinz Engels

Bonn. Weil sie einer Jüdin nach der Reichspogromnacht beim Aufräumen ihres verwüsteten Geschäfts geholfen hatte, machte man Marie Kahle und ihrer Familie das Leben in Bonn zur Hölle. 1939 sah sie sich gezwungen, mit ihrem Mann und den fünf Söhnen nach England zu emigrieren.

Jetzt enthüllte Bezirksvorsteher Karl Wilhelm Starcke gemeinsam mit Margret Traub, der Vorsitzenden der Bonner Synagogengemeinde, und Ulrich Lang, Bezirksverordneter vom Bürger Bund Bonn, am Haus Kaiserstraße 61, dem ehemaligen Domizil der Familie Kahle, eine Gedenktafel. Darauf ist der "Skandal Kahle", wie er seinerzeit in Bonn genannt wurde, skizziert. In absehbarer Zeit soll zudem die Trajektstraße, die die Friedrich-Ebert-Allee mit der Franz-Josef-Strauß-Allee verbindet, nach Marie Kahle benannt werden.

Was in der Nacht zum 10. November und in der Zeit darauf der Familie Kahle widerfuhr, hat Marie Kahle 1945 im englischen Exil veröffentlicht. Die Erinnerungen tragen den Titel "What would you have done? The story of the escape of the Kahle Family from Nazi-Germany" - "Was hätten Sie getan? Die Geschichte der Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland". Stadtarchivar Manfred van Rey zitierte bei der Enthüllung der Gedenktafel daraus. Marie Kahle erzählt in ihren Erinnerungen von der Pogrom-Nacht, als auch in Bonn die Synagogen brannten und Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger geplündert und zerstört wurden. Am Mittag des darauffolgenden Tages hörte sie davon. Ihr Sohn Theodor hatte die Zerstörungen durch Trupps der SS, SA und Gestapo selbst miterlebt und zwei Geschäftsleuten geholfen, ihre Wertsachen zu verstecken.

Theodor und seine vier Brüder warnten daraufhin andere jüdische Freunde. Zwei der Kahle-Söhne liefen zum Haus Kaiserstraße 22, wo Emilie Goldstein ihr Miederwarengeschäft hatte. Sie trafen sie nicht an. Kurz darauf verwüsteten die Nazi-Schergen auch ihren Laden. Den ganzen nächsten Tag räumte Marie Kahles ältester Sohn Wilhelm im Geschäft von Emilie Goldstein auf. Als er mit seiner Mutter zwei Tage später die Jüdin in ihrem Laden besuchte, trat ein Polizist ein, nahm die Personalien der beiden auf und zeigte sie bei der NSDAP-Führung an. Unter der Schlagzeile "Das ist Verrat am Volke" prangerte die nationalsozialistische Tageszeitung "Westdeutscher Beobachter" die Hilfe der Kahles eine Woche später an.

In den folgenden Monaten sah sich die Familie zahlreichen Repressionen ausgesetzt: Wilhelm wurde am 6. Dezember 1938 vom Universitätsgericht der Hochschule verwiesen. Womit er auch von Studien an anderen deutschen Universitäten ausgeschlossen war. Paul Kahle, Maries Ehemann und Professor für Orientalistik, wurde beurlaubt. Nach Ablauf des Sommersemesters 1939 sollte er vorzeitig emeritiert werden. Ein "Familienfreund" legte Marie Kahle nahe, durch Selbstmord weiteren Schaden von ihrem Mann und ihren Söhnen abzuwenden.

Als die Gestapo mit KZ drohte, flohen die Kahles im Frühjahr 1939 nach England. Am Ende des "Skandals Kahle", wie es in Bonn damals hieß, hatte die Familie 1941 alles verloren: ihre Staatsbürgerschaft, das Haus in der Kaiserstraße und ihr Vermögen.

Marie Kahle starb 1948, ihr Mann 1964 im englischen Exil. Die Bonner Universität hat Sohn Wilhelm nie offiziell rehabilitiert. Er starb 1993 in London. Emilie Goldstein wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

Nachdem der Verein An der Synagoge, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Bonn und die Deutsch-Israelische Gesellschaft Bonn gemeinsam mit dem noch lebenden Sohn der Kahles, Botschafter a.D. John H. Kahle, und Professor Wilhelm Bleek mehrmals eine öffentliche Ehrung von Marie Kahle angemahnt hatten, beschloss die Bezirksvertretung Bonn Anfang Januar einstimmig, eine Gedenktafel am Haus der Kahles, das heute im Besitz von Ingrid Schlüter ist, anbringen zu lassen.

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