Jean-Claude Junckers Rede Ein flammender Appell des Präsidenten

STRASSBURG · Es ist keine Rede wie viele andere, die Jean-Claude Juncker in seinem Leben gehalten hat. Als der Präsident der Europäischen Kommission an diesem Mittwochmorgen an das Rednerpult des EU-Parlamentes in Straßburg tritt, weiß er, dass er die Gemeinschaft wachrütteln muss. "Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand", bilanziert er.

 Auf der Autobahn nördlich von Flensburg: Flüchtlinge, die von Deutschland über Dänemark nach Schweden wollen, haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht, nachdem sie mit dem Zug nicht mehr weiterkamen.

Auf der Autobahn nördlich von Flensburg: Flüchtlinge, die von Deutschland über Dänemark nach Schweden wollen, haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht, nachdem sie mit dem Zug nicht mehr weiterkamen.

Foto: dpa

"Es fehlt an Europa und es fehlt an Union." Seit Beginn des Jahres haben sich 500.000 Menschen auf den Weg nach Europa gemacht: "Die Zahlen sind beeindruckend, für manche beängstigend. Aber dies ist nicht die Zeit für Angst", sondern für "wagemutiges Handeln", ruft er den 751 Volksvertretern aus 28 Mitgliedstaaten zu.

Juncker hinterlässt Spuren, in der Debatte wird eine ungarische Parlamentarierin sagen: "Ich schäme mich für den Umgang meines Landes mit den Opfern des syrischen Bürgerkrieges." Abgesehen von EU-Gegnern und -Skeptikern geben Juncker später die Fraktionschefs aller Parteien Recht: "Wenn es armen Ländern wie dem Libanon gelingt, über 1,5 Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, müsste ein so reicher Kontinent wie Europa bereit sein, einigen Hunderttausend eine neue Heimat zu geben", meint der Vorsitzende der Christdemokraten, Manfred Weber (CSU). "Danke für Ihre schöne Rede", sagt Gianni Pittella, der an der Spitze der Sozialdemokraten steht.

Doch für Juncker ist es keine "schöne" Rede. Der 60-jährige Christdemokrat begegnet auf eine fast schon fatale Weise an diesem Morgen der eigenen Geschichte. Er wuchs im luxemburgischen Redingen als Sohn eines Hüttenwerkspolizisten auf - umgeben von vielen Immigranten vor allem aus Italien. Doch die Erinnerung an die eigene Kindheit muss an diesem Tag besonders bitter für ihn sein: Am Sonntag verstarb seine Mutter, sein Vater liegt seit diesem Tag im Krankenhaus. Es sei "Zeit, dass wir anfangen, den Grundstein für eine echte europäische Migrationspolitik zu legen", sagt er.

Bereits am Montag, wenn die 28 Innenminister der Gemeinschaft zusammenkommen, sollen sie billigen, was Juncker gestern vorstellte: Zusätzlich zu den bereits im Mai genannten 40.000 Asylbewerbern, die in italienischen und griechischen Auffanglagern leben, sollen nun 120 000 weitere aufgenommen und auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.

Vorrangig soll es um Menschen aus Staaten gehen, bei denen die durchschnittliche Anerkennungsquote in der EU 75 Prozent oder mehr beträgt. Das gilt für Syrer, Opfer des IS-Terrors sowie Menschen, die vor der Diktatur in Eritrea geflohen sind - nicht aber für jene, die sich bereits auf türkischem oder jordanischem Boden befinden. Dort investiert die EU bis zu vier Milliarden Euro in Bildungs- und Arbeitsmaßnamen, um den Betroffenen ein sicheres Leben mit einer soliden Perspektive zu schaffen. Und auch jene, die aus dem Kosovo, aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Albanien sowie Mazedonien kommen, müssen künftig draußen bleiben: Brüssel will diese Staaten als sichere Herkunftsländer einstufen. Asyl wäre damit nur noch in begründeten Einzelfällen möglich. "Diesmal geht es nicht mehr um Rhetorik", sagt Juncker. "Es geht um Taten." Mehr noch: "Migration muss legalisiert werden."

Für 2016 plant die Brüsseler Kommission eine Einwanderungsstrategie. Schon jetzt aber soll ein Solidaritätsmechanismus sicherstellen, dass Asylbewerber künftig und dauerhaft auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Dass dies eine Kampfansage an Länder wie Lettland, Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn ist, weiß der Präsident. Aber den Konflikt "scheue ich nicht", betont der Präsident.

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