Kriegsende im Rheinland Duell am Dom

Köln · Am 6. März 1945 standen sich in Köln zwei Panzerschützen unversöhnlich gegenüber - stellvertretend für ganze Armeen. Erst 68 Jahre später schlossen sie Frieden am Grab der zwei vielleicht letzten zivilen Kölner Opfer im Zweiten Weltkrieg.

Niemand weiß bis heute wirklich, wohin Katharina Esser und Hans Delling an jenem Tag wollten. Als sie am Morgen des 6. März 1945 mit einem Opel P4 in die Christophstraße einbiegen, geraten der Lebensmittelhändler und seine junge Angestellte urplötzlich zwischen die Fronten des Häuserkampfes. Von zwei Seiten durchsiebt Maschinengewehrfeuer ihr Fahrzeug.

Auf der einen Seite feuert der erst 19 Jahre alte Clarence Smoyer aus einem amerikanischen Pershing-Panzer, auf der anderen Seite sein ein Jahr jüngerer Gegner Gustav Schäfer aus einem deutschen Panther-Panzer. Es sind die letzten Kriegsmomente in Köln.

Der am Steuer des Opel sitzende Hans Delling ist sofort tot. GI Smoyer kann das nervenzehrende Patt erst nach mehreren Stunden entscheiden. Er wirft eine Granate an eine nahe Hauswand. Deren Trümmer begraben den deutschen Panzer unter sich. Erst jetzt können amerikanische Sanitäter Katharina Esser bergen und versorgen.

Dramatische Szenen eines entfesselten Krieges mitten in Köln. 2007 entdeckt der Filmemacher Hermann Rheindorf Aufnahmen des US-Militärs davon. Sie rücken die Schrecken der letzten Kriegstage nochmals hautnah in Erinnerung. Umgerechnet mehr als 83 volle Tage und Nächte leben die Kölner seit 1940 unter Luftangriffen.

Besonders schlimm ist der 30. Mai 1942. Er beschert der kaum durch Artillerie geschützten Stadt den größten Luftangriff des Krieges. 1047 Flugzeuge gehen auf 53 Fliegerhorsten in die Luft – alles was die Air Force an Gerät und Personal hat auftreiben können. Selbst Flugschüler sind im Einsatz. Die Vollmondnacht ist wolkenlos – trotz angeordneter Verdunkelung liegt die Stadt den Piloten gut sichtbar zu Füßen.

Um 0.47 Uhr werfen zwei erste Short Stirlings ihre Fracht über dem Neumarkt ab. Dann geht es Schlag auf Schlag. Insgesamt 896 weitere Flugzeug-Besatzungen folgen in mehreren koordinierten Wellen. Ohne erkennbare Ziele verstreuen sie ihre tödliche Fracht gleichmäßig über dem gesamten Stadtgebiet – vor allem aber über die dicht besiedelten Wohnviertel. 88 Minuten lang erlebt Köln ein nie gekanntes Inferno. Häuserwände, Türen und Fenster bersten unter den Explosionen von 864 Sprengbomben.

Doch sind sie in dieser Nacht nicht die größte Gefahr: 110.000 Brandbomben sowie 1044 Kanister und Bomben mit leicht entzündlichem Phosphor verwandeln die Stadt in einen brennenden Flickenteppich. Beißender Rauch von 2500 Brandherden liegt über der Stadt, das Feuer schneidet vielen Bewohnern den Fluchtweg ab. Verletzte schreien um Hilfe, Nachbarn suchen nach Verschütteten. Die breiten Straßen der Ringe und der sofortige Großeinsatz der Feuerwehr mindern ein wenig den Schaden - die Katastrophe können sie nicht abwenden.

Erst als der Morgen graut, wird das ganze Ausmaß der Operation Millenium, des ersten 1000-Bomber-Angriffs auf Deutschland, sichtbar. 13.000 Wohnungen sind vollkommen zerstört, mehr als 6000 weitgehend. 1500 Geschäfte und Handwerksbetriebe existieren nicht mehr. Auch neun Krankenhäuser, 16 Schulen und 17 Kirchen sind bestenfalls noch Ruinen. Und das ist nur der erste Höhepunkt des jahrelangen Martyriums. Die Menschen, die am 6. März 1945 noch in der Stadt leben, sind also Schreckliches gewöhnt. Das erklärt vielleicht zumindest teilweise, warum Katharina Esser und Hans Delling sich in den letzten Kriegsstunden überhaupt auf die Straße wagen.

Von der einst so blühenden Stadt ist in diesen Tagen nur noch ein Trümmerberg von 32 Millionen Kubikmetern Schutt übrig. Lediglich der Dom ragt noch halbwegs intakt aus den Trümmern hervor. Trotzdem verlangt ein fanatischer Redakteur des NS-Parteiblattes „Westdeutscher Beobachter“ noch in der Ausgabe vom 2. März 1945, die Einwohner sollten ihre Stadt mit einem „Kampf bis aufs Messer“ verteidigen, um dem Gegner maximal zu schaden.

Danach jedoch verstummt die Stimme des Regimes – und seine Spitzenvertreter machen sich rasch aus dem Staub. Gauleiter Josef Grohé hat sich ein Motorboot organisiert, mit dem er ans rechte Rheinufer flüchtet. Der kommissarische Oberbürgermeister Robert Brandes kriecht mit seinen letzten Getreuen in aller Heimlichkeit durch eine Rohrunterführung bei Niehl. Die meisten Behörden hat man schon im Herbst 1944 auf die rechte Uferseite verlegt.

Aber ist Köln überhaupt noch eine Stadt – oder nur noch ein symbolischer Ort? 100.000 Männer sind als Soldaten an der Front, 17.000 von ihnen sterben. 16.000 weitere wird man nach Kriegsende für vermisst erklären. 20.000 Einwohner sind im Bombenkrieg gestorben, Zehntausende Kinder aufs Land verschickt.

Alle wehrfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren sind zum Volkssturm eingezogen, Schüler und Lehrer müssen vergeblich am Westwall graben. Von Januar bis März 1945 wurden in Köln 1800 in- und ausländische Widerstandskämpfer im Zuge der Endphaseverbrechen von Nazi-Schergen getötet. Ferner wurden etwa 8000 jüdische Kölner, Mitglieder der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen, von den Nationalsozialisten ermordet.

Zwar vegetieren Zehntausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in den Messehallen, einem Außenlager des KZ Buchenwald, und in Hunderten weiteren Lagern auf dem Stadtgebiet. Aber im Frühjahr 1945 ist die Stadt weitgehend verlassen. Von den einstmals 770.000 Einwohnern sind am linken Rheinufer im März 1945 nur noch schätzungsweise 12000 übrig, rechtsrheinisch etwa 30000. Alle staatliche Ordnung hat sich aufgelöst.

Nachdem bereits alle übrigen Brücken zumeist bei Luftschlägen zerstört worden sind, sprengen deutsche Pioniere am Mittag des 6. März auch die Hohenzollernbrücke und überlassen das linke Rheinufer endgültig seinem Schicksal. Die Brücke wird zu einem Symbol für den Untergang.

Auch Hans Delling und seine Angestellte Katharina Esser sind womöglich auf dem Weg dorthin, in der Hoffnung, sie noch überqueren zu können, als sie zwischen die Fronten geraten. Im letzten Augenblick wollen sie noch die Seiten wechseln, raus aus der zerstörten Altstadt und hinüber zu Katharinas Freund, meint ein Bekannter sich Jahrzehnte später erinnern zu können. Der Versuch endet tödlich.

Nach der Sprengung ist Köln eine geteilte Stadt. Bis Mitte April, bis US-Truppen auch die rechtsrheinischen Viertel erreichen. Das Wunder von Remagen am 7. März kommt ihnen zu Hilfe: Zwar versuchen die Deutschen auch die dortige Brücke zu sprengen, doch fällt sie nach der Explosion zunächst wieder in ihre Lager. So kann ein großer Teil der 9. US-Panzerdivision über den Fluss gelangen und einen Brückenkopf bilden, bevor der Bau zehn Tage später kollabiert. Von hier aus stoßen am 12. April US-Truppen auf dem Mauspfad - einer alten Heerstraße aus keltischer Zeit - bis ins rechtsrheinische Köln vor.

Am 15. April 1945 schweigen in der Stadt endlich die Waffen. Katharina Esser erlebt diesen Moment der Stille nicht mehr. Sie wird – eben erst von US-Sanitätern aus dem Autowrack gerettet – beim weiteren Einmarsch der Alliierten am 6. März von einem Panzer überrollt. Mehr Glück hat der junge Schütze Gustav Schäfer.

In seinem Panzer begraben, ergibt er sich den amerikanischen Soldaten. Hatte Propagandaminister Joseph Goebbels im Oktober 1944 noch in einer Durchhalterede in Köln ein „Terrorregime“ der Alliierten an die Wand gemalt, so kehrt nun endlich Frieden ein. Aber erst 1959 erlangt Köln wieder die Einwohnerzahl der Vorkriegszeit.

Der Kölner Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll erinnert sich später an seine zerstörte Heimatstadt: „Als wir Köln wiedersahen, weinten wir. Wir kamen über die geländerlose, von Lehm glitschige Behelfsbrücke von Deutz herüber; ein englischer Panzer, der uns entgegenkam und ins Rutschen geriet, drängte uns fast in den Rhein. Wieder und noch einmal: Todesangst. Das zerstörte Köln hatte, was das unzerstörte nie gehabt hatte: Größe und Ernst.“

Katharina Esser und Hans Delling, die zwei zufälligen Opfer des Krieges, werden auf dem Friedhof St. Gereon begraben. Im Frühjahr 2013 blicken sich dort Gustav Schäfer und Clarence Smoyer in die Augen. Die wiederentdeckten Filmaufnahmen haben das Treffen inspiriert. Lange Zeit konnten die beiden Schützen die dramatischen Augenblicke nicht vergessen. 68 Jahre später schließen sie auch persönlich Frieden.

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