Die klaffende Wunde von Köln

Voller Optimismus stellten die Kölner Verkehrsbetriebe vor einigen Tagen gemeinsam mit den Archivaren der Domstadt eine neue Aktion vor: Eine Archivbahn, die unter dem Motto "Kölner Archive geben Auskunft" an die lange Geschichte der Stadt erinnern soll.

Die klaffende Wunde von Köln
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Köln. (ga/dpa) Dass die Aktion auch falsch verstanden werden könnte, hatten die Verantwortlichen der Kölner Verkehrsbetriebe offenbar nicht einkalkuliert. Voller Optimismus stellten sie vor einigen Tagen gemeinsam mit den Archivaren der Domstadt eine neue Aktion vor: Eine Archivbahn, die unter dem Motto "Kölner Archive geben Auskunft" an die lange Geschichte der Stadt erinnern soll.

Die Macher hatten freilich übersehen, dass sie kritisch gefragt werden könnten, warum sie ihre Liebe für die Archive nicht etwas früher unter Beweis gestellt haben; schließlich geben die Bürger der KVB einen erheblichen Teil an Verantwortung für den Einsturz des historischen Archivs vor exakt einem Jahr.

Damals kamen nicht nur zwei Kölner ums Leben, das gesamte Stadtarchiv versank in der U-Bahn-Baugrube an der Severinstrasse. Die Wunde klafft bis heute in der historischen Altstadt, der Ort ist noch immer mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Wer näher kommt fragt sich, wie man das Loch je wieder wird füllen können. Klar ist: Es kann Jahre dauern.

Auch ein Jahr nach der Katastrophe kann kein Verantwortlicher sagen, warum sie geschah, wabern Theorien über die möglichen Ursachen. Selbst die ermittelnden Staatsanwälte ziehen bei der Frage nach dem "Warum" die Schultern hoch. Als sicher gilt aber, dass es einen Zusammenhang mit dem Bau der neuen U-Bahn gibt. Unmittelbar vor dem Archivgebäude befand sich eine tiefe Baugrube.

Bis die genaue Ursache feststeht, wird es nach Angaben der Staatsanwaltschaft noch Monate dauern. Bislang konnten die Gutachter noch nicht einmal die Schadensstelle aus der Nähe betrachten - sie befindet sich tief in dem unter Wasser stehenden Krater. Beim Einsturz des Archivs wurden zwei Nachbarhäuser teilweise mit in die Tiefe gerissen. Tagelang galten zwei Bewohner - ein 17- jähriger Lehrling und ein 24-jähriger Student - als vermisst.

Die Rettungskräfte arbeiteten fieberhaft, doch der viele Schutt, die wackeligen Gebäudereste und Dauerregen machten die Suche schwer. Nach Tagen dann die traurige Gewissheit: Die jungen Männer überlebten das Unglück nicht. Dennoch grenzt es fast an ein Wunder, dass nicht noch mehr Menschen ihr Leben verloren: Der Unterricht im Gymnasium gegenüber war zur Unglückszeit bereits beendet, und noch eine Woche vor dem Einsturz führte der Rosenmontagszug direkt am Archiv vorbei.

Mehrere Dutzend Bewohner angrenzender Häuser verloren durch das Unglück ihre Wohnungen und teilweise ihr gesamtes Hab und Gut. Für sie rollte eine Welle der Hilfsbereitschaft an: Von zahlreichen Privatleuten und Unternehmen kamen Geld- und Sachspenden, die Stadt half bei der Wohnungssuche, die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) zahlten ein Überbrückungsgeld. Der Großteil der wertvollen Archivgüter, die in dem trichterförmigen Krater lagen, ist inzwischen geborgen und vorübergehend auf verschiedene Archive in ganz Deutschland verteilt.

Zwar sind einige Dokumente nahezu unbeschädigt, doch viele sind in einem schlimmen Zustand und müssen aufwendig getrocknet und zusammengeflickt werden. Bis alles restauriert ist, wird es nach Angaben der Archivleitung etwa 30 Jahre dauern. Das Historische Archiv - das "Gedächtnis der Stadt Köln" - galt als eines der bedeutendsten kommunalen Archive in Europa. Dort lagerten unter anderem 65 000 Urkunden ab dem Jahr 922, eine halbe Million Fotos und zahlreiche Nachlässe, unter anderem von Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll.

Wer letztlich Schuld trägt an dem Unglück, ist noch völlig offen. Die juristische Aufarbeitung könnte mehrere Jahre dauern. Denn es geht um einen Schaden, der Schätzungen zufolge in Milliardenhöhe liegt. Schon kurz nach dem Einsturz hagelte es Kritik an der Informationspolitik und dem Krisenmanagement der Stadt, der KVB und der ausführenden Baufirmen. Persönliche Konsequenzen zog nur der damalige Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU): Entgegen ursprünglicher Pläne trat er bei der Kommunalwahl im August 2009 nicht wieder an.

Die Kölner sind mittlerweile nur noch genervt, konsterniert, wütend. Als sich die Verantwortlichen des Bauunternehmens, der Stadt und der KVB kürzlich mit Bürgern im Gürzenich-Saal trafen, der guten Stube der Stadt, gingen sie nach stundenlangen Diskussionen eher ratlos auseinander. Die Oberen hatten den Bürgern das Gefühl geben wollen, sie hätten inzwischen alles im Griff und lieferten jede Menge Fakten, aber sie drangen nicht durch.

"Wir glauben Euch nicht mehr", schleuderten Bürger den Offiziellen auf dem Podium mehrfach entgegen, zumal die entscheidende Frage bis jetzt niemand beantworten kann. "Warum hat das vorher keiner bemerkt?", wollte einer der Zuhörer wissen, nachdem einer der Vorstände darüber geklagt hatte, was er alles nicht wusste.

Bei der Staatsanwaltschaft füllt dieses Nichtwissen inzwischen ganze Aktenordner. Mal wurden Stahlbügel nicht eingebaut und auf dem Schwarzmarkt verhökert, dann wieder wurden reihenweise Bauprotokolle gefälscht und schließlich sparten die ausführenden Firmen am Beton - so dass die Stabilität vieler Haltestellen und Gleiswechselanlagen so sehr in Frage steht, dass die Verantwortlichen bei dem jetzt einsetzenden Hochwasser die fast 40 Meter tiefe Baugrube am Heumarkt mitten in der Kölner Altstadt fluten wollten, weil sie ansonsten zusammenzustürzen drohte.

Quasi in letzter Sekunde zeichnete sich ab, dass das Hochwasser nicht die kritische Höhe erreichen würde. Dass kriminelle Aktionen eine Rolle beim U-Bahn-Bau spielten steht längst fest. Unklar ist freilich, warum das niemandem aufgefallen ist. Die Bauaufsicht war auf die KVB als Bauherrn delegiert worden; erst jetzt hat man die Überwachung an staatliche Stellen zurückgeholt.

Die sind freilich so unterbesetzt, dass sie nur mit Hilfe von privaten Ingenieurbüros die dringendsten Fragen beantworten können. Ein Jahr nach der Katastrophe schütteln viele Kölner darüber nur noch den Kopf. Spätestens seit dem Archiv-Einsturz dürfte jedem klar sein, dass auf die lässige kölsche Lebensweisheit "Et hätt noch immer jot jejange" nicht immer Verlass ist.

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