"Die Vertreibung hat doch alle betroffen"

Die Begegnung von 40 polnischen Studenten mit Zeitzeugen ist für beide Seitenaufschlussreich. Persönliche Schicksale berühren. Die dauerhafte Rückkehr ist für die Alten kein Thema

"Die Vertreibung hat doch alle betroffen"
Foto: Frank Homann

Heisterbacherrott. "Wenn unsere polnischen Gäste von fünf Vorurteilen drei abbauen und zwei hinterfragen, hat sich das Seminar gelohnt." So sieht die Rechnung von Petra Meßbacher, der Geschäftsführerin im Verein Haus Schlesien, aus.

In dieser Woche ist erneut eine Gruppe von 40 Studentinnen und drei Studenten der Universität Breslau in Heisterbacherrott zu Gast, es ist etwa die 30. Gruppe in den vergangenen neun Jahren.

Besonders große Hoffnungen knüpften die Verantwortlichen von Haus Schlesien an das Zeitzeugengespräch, das die Gäste am zweiten Tag ihres Aufenthalts erwartete. Dabei berichteten fünf Schlesier, die zwischen 1924 und 1934 in und um Waldenburg, das heute Walbrzych heißt, und in Breslau (heute Wroclaw) geboren wurden und heute im Bonner Raum leben, über ihre Kindheit und Vertreibung.

Die jungen Polen erfuhren viel Aufschlussreiches, ihre Gegenüber jedoch nicht weniger. "Wir haben Vorurteile", sagt Irmina Kozaczek, die wie ihre Kommilitonen im dritten Semester Germanistik studiert. "Bei vielen alten Schlesiern kommt der Hass hoch. Wir sollen an etwas schuld sein, das wir nicht getan haben", so die Polin.

Dabei werde die Vertreibung nach dem Krieg mit zweierlei Maß gemessen. "Ich würde nicht viel von der Vertreibung der Polen durch die Russen und Ukrainer wissen, wenn ich das nicht von meinen Eltern und Großeltern erfahren hätte", meint Irmina. Ihre Großmutter habe sie aber auch unfreiwillig gelehrt, Verständnis für die Haltung vieler Schlesier zu haben. Die Oma hatte bei der Vertreibung aus ihrer alten Heimat unter den Ukrainern gelitten und sei auch unversöhnlich gewesen.

Die Diskussion über das geplante Zentrum gegen Vertreibungen, das in Berlin errichtet werden soll, ist für Irmina dennoch charakteristisch für die Einstellung vieler Deutscher. "Da soll die Vertreibung der Deutschen ganz groß, die Vertreibung anderer Nationen aber nur ganz klein dargestellt werden. Wir Polen haben den Eindruck, dass unser Leid auf diese Weise verkleinert werden soll. Dabei hat die Vertreibung doch alle betroffen, wie kann man da ein einzelnes Volk herausgreifen." Den Unterschied glaubt sie darin ausgemacht zu haben, dass "die Polen einfach nicht so laut über dieses Thema sprechen wie die Deutschen".

Hans-Jürgen Betz, mit Jahrgang 1934 der jüngste der Zeitzeugen, hörte aufmerksam zu. Für ihn ist es bereits ein Erfolg, dass "man über dieses Thema heute vorurteilsfrei sprechen kann". Positiv überrascht zeigte er sich davon, dass in Polen zurzeit ein Archiv über die Vertreibung mit Berichten von Zeitzeugen - darunter auch Schlesier - aufgebaut wird, die zuvor interviewt werden.

Warum das so wichtig ist, verdeutlicht Irmina: "Die persönlichen Geschichten sind viel wichtiger als die große Geschichte. In 50 Jahren leben schließlich keine Menschen mehr, die Vertreibung erlebt haben. Dann gibt es nur noch Statistiken."

Sehr intensive praktische Erfahrungen mit alten Schlesiern hat Magdalena Sowa gemacht. Im Sobieszow, dem früheren Hermsdorf, führt sie gelegentlich Besuchergruppen durch deren frühere Heimat. Einmal passierte es ihr, dass ein alter Schlesier, als er erzählte, wie der Ort und sein Haus früher ausgesehen haben, plötzlich in Tränen ausbrach. "Da musste ich auch weinen. Dieses gemeinsame Erlebnis war sehr schön", sagt die Studentin.

Magdalena und Irmina haben die Erfahrung gemacht, dass sie die Deutschen in ihrer Heimat trotz aller Kritik auch immer wieder verteidigen. "In Polen wird mir oft vorgeworfen, ich sei germanisiert", erzählt Irmina. Am Willen zum Verstehen fehlt es ihr jedenfalls nicht. "Zu sagen, die einen sind gut und die anderen sind schlecht, ist eine sehr einfache und bequeme Sicht der Dinge." Ob die Polinnen nach ihrem umfangreichen Besuchsprogramm weniger Vorurteile haben werden, hängt für sie von den Begegnungen mit den Menschen ab, aber auch von ihrer eigenen Einstellung, sich auf eine neue Sichtweise einzulassen.

Irgendwann im Laufe des Abends wurde auch Hans-Jürgen Betz gefragt, ob er sich eine dauerhafte Rückkehr nach Schlesien vorstellen könnte. "Ich bin bisher dreimal dort gewesen und habe das schon überlegt. Aber die Realität ist mir so fremd geworden. Ich könnte da nicht mehr zurechtkommen, weil ich ja nicht einmal die Sprache beherrsche", muss er eingestehen. Da geht es ihm nicht anders als Irminas Großmutter, die auch nicht mehr in ihre alte Heimat, die heutige Ukraine, zurückkehren will. "Sie sagt, ihre Heimat existiere doch nicht mehr. Sie versteht unter Heimat, wo sie lebt und ihre Freunde hat", sagt Irmina.

Viele Probleme heilt auch die Zeit. Während die Elterngeneration der Polen noch Angst hatte, dass die Deutschen zurückkommen und ihnen ihre Häuser wegnehmen könnten, sehen Irmina und ihre Kommilitonen die Schlesier mit ganz anderen Augen. "Die deutsche Geschichte in Schlesien ist für uns einfach interessant. Unsere Eltern und Großeltern haben noch gelitten, aber uns tut das nicht mehr weh." Bereits in der Grundschule gehen die Kinder inzwischen auf die Spuren der deutschen Geschichte. Vielleicht kommen sie einmal ganz ohne Vorurteile aus.

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