Die Angst der Fischer vor dem Meer

Zwischen Krisenreaktion und Wiederaufbau: Acht Wochen nach der großen Flutwelle ist die unmittelbare Not überwunden, doch von Normalität ist das Leben noch weit entfernt - Aktion "Bonn hilft"

  Beschädigte Boote  am Strand von Singerathopu: Noch fährt kaum jemand aus, selbst wenn er könnte. Aus dem Respekt vor dem Meer ist Angst geworden. Fotos: Deutsche Welthungerhilfe

Beschädigte Boote am Strand von Singerathopu: Noch fährt kaum jemand aus, selbst wenn er könnte. Aus dem Respekt vor dem Meer ist Angst geworden. Fotos: Deutsche Welthungerhilfe

Cuddalore. Urlaubsidylle. Im Hintergrund singen die Blätter der Kokospalmen im Wind ihr Lied, der Sandstrand gleißt hell in der Sonne, im Indischen Ozean rollt die Brandung, weiße Schaumkronen unter tiefblauem Himmel. Jetzt nur nicht umdrehen, nicht dieses trügerische Traumbild von der harten Realität vertreiben lassen.

Denn die sieht anders aus. Kehrt man dem Ozean den Rücken, bleibt der Blick an den Spuren der Zerstörung hängen, die der Tsunami auf dieser kleinen Insel im südostindischen Distrikt Cuddalore geschlagen hat. Entwurzelte Bäume zeugen von der brachialen Gewalt, mit der die meterhohe Flutwelle sich einen Weg durch den Palmenwald bahnte.

Reste von zerfetzten Fischernetzen hängen an den Bäumen, ein Telefonkabel baumelt im Wind, ein Brett mit Stromzähler liegt im Sand, erstaunlicherweise nahezu ebenso unversehrt wie eine Glühbirne. Am dem Festland zugewandten Strand der zertrümmerte Rest eines kleinen Fischerbootes aus Fiberglas. Aber sonst erinnert nahezu nichts daran, dass auf diesem kleinen Eiland, vielleicht 1 000 Meter lang und nicht viel breiter als 200 Meter, einmal 68 Familien ihre Heimat hatten. Ihr Dorf Chinnavaikal ist völlig verschwunden.

Hätte uns Mehan, der uns mit dem Boot zur Insel gebracht hat, nicht den Ort gezeigt, wo einst seine Palmhütte stand, wir wären vermutlich achtlos daran vorbeigelaufen. Jetzt sitzt der 24-Jährige in den kümmerlichen Überresten und erzählt von dem Tag, der das Leben der Menschen hier an der Küste völlig verändert hat.

Wie viele Männer des Ortes war er am 25. Dezember in die Stadt Cuddalore zum Weihnachtsfestival gefahren. Frauen und Kinder waren der haushohen Flutwelle am Morgen des folgenden Tags hilflos ausgeliefert, als sie über die Insel hinwegfegte und ihre Opfer ans Festland spülte, wo für manchen die Dornbüsche am Strand mit ihren zentimeterlangen Stacheln zur tödlichen Falle wurden.

15 Tote hat das Dorf zu beklagen, davon zwölf Kinder. Auch Mehans einjähriger Sohn ist darunter. Seine Lebensgefährtin und die zweijährige Tochter haben überlebt. Wie die anderen Dorfbewohner haben sie in kleinen, von Hilfsorganisationen schnell errichteten Häusern aus Wellblech eine vorübergehende Bleibe gefunden.

Auf der Insel werden weiterhin die Kokospalmen abgeerntet, aber dauerhaft leben will dort niemand mehr. Die Angst, dass sich die Katastrophe wiederholen könnte, ist zu groß. Aber die Regierung hat in ihrem Bemühen, die Infrastrukturschäden so schnell wie möglich zu beheben, die Stromversorgung schon wieder in Gang gesetzt. Aus der ehemaligen Heimat, dem Idyll, das sogar für eine touristische Erschließung im Gespräch war, ist nachts eine beleuchtete Geisterinsel geworden.

Die neue Heimat des Dorfes Chinnavaikal liegt auf dem Festland. Gut zwei Kilometer vom Strand entfernt hat die Regierung Land zur Verfügung gestellt, wie viel genau es sein wird, wie groß die Häuser sein und in welchem Abstand sie gebaut werden, weiß allerdings noch niemand.

Für George Heston von der Nichtregierungsorganisation Indo-Global Social Services Society (IGSSS), eine Partnerorganisation der Welthungerhilfe, ist allerdings schon klar, dass die Bewältigung der Katastrophe genutzt werden soll, um die Lage der lange vernachlässigten Fischer langfristig zu verbessern.

"Unser Traum ist, hier ein Modelldorf aufzubauen", schwärmt er. Ein Dorf, in dem es gutes Trinkwasser und Sanitäranlagen gibt, Strom, Erdbeben- und Tsunami-sichere Häuser, Zugang zu Bildung und vor allem Arbeitsmöglichkeiten für alle. Am Wiederaufbau sollen die Menschen so weit wie möglich beteiligt werden. Keine uniforme Reihensiedlung schwebt ihm vor, sondern individuell gestaltete kleine Häuser, in denen sich die Menschen wiederfinden.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, und nicht überall liegen die Verhältnisse so klar wie in dem relativ überschaubaren Chinnavaikal. In den beiden unweit von der Distrikthauptstadt Cuddalore gelegenen, benachbarten Dörfern Sonangkupam und Singerathopu etwa leben insgesamt mehr als 3 000 Familien. Mindestens 278 Boote müssen repariert, 286 Boote ersetzt werden. 64 Tote hat es insgesamt gegeben, alle Palmhütten wurden weggeschwemmt, die meisten Fischnetze wurden beschädigt oder zerstört. 485 Häuser können repariert, 477 müssen neu errichtet werden.

Erstaunlicherweise finden sich in allen verwüsteten Dörfern immer wieder Häuser, die den Tsunami auf den ersten Blick nahezu unversehrt überstanden haben. Der Größe, dem gepflegten Zustand und den reichen Verzierungen ist anzusehen, dass ihre Besitzer zu den Wohlhabenden im Dorf gehören. Nur die Einfriedungsmauern, die ihre Grundstücke eingrenzten, haben dem Wasserdruck nicht standgehalten und sind völlig zerfallen.

Auch M. Viswanathan hat sich dieser Tag unauslöschlich im Gedächtnis eingeprägt. Frühmorgens war der 51-jährige Fischer zum Meer gegangen, um die Ausfahrt vorzubereiten. Die erste Welle war nur gut einen halben Meter hoch, sie spülte die Netze und das Boot fort. "Dann kam schon die zweite Welle, haushoch war die, und riss mich mit bis ins Nachbardorf."

Dort wurde er in die Dornbüsche geschleudert und konnte sich an einer Kokospalme festklammern, bis auch diese entwurzelt umstürzte. "Ich konnte die Beine vor Schmerzen nicht mehr bewegen", berichtet er, "wären nicht einige Dorfbewohner gekommen und hätten mich festgehalten, ich wäre umgekommen." Als alles vorbei ist, ist von seinem Haus nichts mehr übriggeblieben. Immerhin, er hat überlebt. Aber die fünfjährige Tochter seiner Schwester ist ertrunken, erzählt er leise, und plötzlich schießen Tränen in seine Augen.

Geschichten wie diese gibt es viele hier in den Fischerdörfern, alle ähneln sich, und doch ist jede anders. Kathurvelu (34) etwa war weit draußen auf dem Meer und hat von der Flutwelle kaum etwas bemerkt. Seine Frau war mit den beiden Kindern in der Hütte und hatte die Alarmrufe zuerst für einen bösen Scherz der Nachbarn gehalten.

Als sie dann nachschauen ging, war es schon zu spät. Ein Mann rettete die dreijährige Tochter. Der kleine Sohn wurde der Mutter von den Fluten aus den Händen gerissen und ertrank. "Sie wird damit nicht fertig", erklärt Kathurvelu, das Trauma verfolgt die Frau bis in den Schlaf.

Wenigstens ist die unmittelbare Not überwunden. Nationale und internationale Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben schnell Nahrungsmittel und eine Grundausstattung an Hausrat zur Verfügung gestellt oder so genannte "temporary shelters", Übergangshäuser aus Schnellbauplatten und Wellblech, errichtet. "Die Lebensmittel reichen jetzt erst einmal für ein paar Wochen", sagt George Heston.

Auf Bannern und Schildern haben die Helfer ihre Spuren in den Dörfern hinterlassen: Care, Ärzte ohne Grenzen, World Vision, Plan India, Sadhu Vaswami Mission usw. Das Life Help Center for the Handicapped, nach dem Vorbild der deutschen Lebenshilfe entstanden und ein langjähriger Partner der Welthungerhilfe, hat eine Impfkampagne unterstützt und allein im Distikt Cuddalore seit dem 29. Dezember 30 000 Menschen gegen Typhus geimpft.

In allen Dörfern ist die Stromversorgung wieder in Gang gesetzt, Unicef und andere Organisationen haben unzählige kleine Wasserbehälter aus Kunststoff installiert, die zwei Mal am Tag von einem staatlichen Tankwagen mit Wasser gefüllt werden.

Dennoch ist die Stimmung gedrückt. "Das Leben wird nicht mehr dasselbe sein", sagt der Fischer Bala Raman in Singerathopu. Angst beherrscht das Leben in den Dörfern, Angst, vor einer weiteren Flutwelle. "Die gute Mutter See hat sich in eine böse Schwiegermutter verwandelt", erklärt Martin Dietz, der bis vergangene Woche die Welthungerhilfe in Cuddalore vertreten hat, die Empfindungen der Leute. In Pudhupettai ist diese Angst so groß, dass die Menschen fordern, den Strand nachts zu beleuchten: Sie wollen auch aus der Ferne und in der Dunkelheit sehen können, ob das Böse im Meer erneut erwacht.

"Wir sind es leid, immer nur Reis und Dahl (Linsen) zu essen, wir wollen endlich wieder Fisch." Thiru Gagan Deep Singh Bedi ist Collector (Verwaltungschef) des Distrikts Cuddalore. 48 Tage nach der Katastrophe steht der Mann mit dem buschigen Vollbart und dem currygelben Turban unter einem Baldachin am Strand von Pudhupettai und versucht, den Fischern Mut zu machen.

Sie gehören zu den ersten des Distrikts, die wieder aufs Meer gehen. Ein paar Fiberglasboote wurden repariert, eines neu angeschafft, die Diesel-Außenborder in Stand gesetzt. Ein Hindu-Priester erteilt seinen Segen, dann laufen die zehn Boote aus. Es ist ein spärlicher Fang, den sie nach knapp zwei Stunden zurückbringen - und niemand weiß, welchen Erlös er bringt. Denn den anspornenden Worten des Collectors zum Trotz: Die Nachfrage nach Fisch ist drastisch gesunken. Die Menschen haben Angst, Fisch aus den Gewässern zu verzehren, in denen so viele ihr Leben lassen mussten. Von Normalität ist Cuddalore noch weit entfernt.

Cuddalore - Zahlen und Fakten

Der Distrikt Cuddalore liegt an der Ostküste Indiens im Bundesstaat Tamil Nadu. Die Fläche beträgt 3 678 Quadratkilometer, die Bevölkerung liegt bei 2,29 Millionen. Zum Vergleich: der Rhein-Sieg-Kreis zählt bei 1 153 Quadratkilometer Fläche rund 576 000 Einwohner.

Zwei Drittel der Menschen in Cuddalore leben auf dem Land, und mehr als zwei Drittel der etwa 350 000 Haushalte im Distrikt gelten als arm. Reis, Erd- und Cashewnüsse, Hülsenfrüchte, Hirse, Zuckerrohr und Baumwolle sind die wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte. Die Analphabetenquote liegt bei knapp 30 Prozent. Die durchschnittlichen Höchsttemperaturen erreichen im Mai gut 36 Grad Celsius, die Tiefsttemperaturen liegen bei durchschnittlich 20 Grad im Januar. Etwa 1 400 Hektar sind bewaldet.

Nennenswerte Bodenschätze gibt es nicht. Die Stadt Cuddalore hat einen Seehafen, der vor allem zur Löschung von Importkohle und Dünger dient. Der Hafen von Porto Novo südlich von Cuddalore könnte sich zu einem größeren Fischereihafen entwickeln. Alle Dörfer und kleineren Weiler sind an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Es gibt acht Krankenhäuser und 13 Gesundheitszentren. Bildung: Neun Colleges (drei in Cuddalore), 100 Oberschulen, 140 High Schools und 223 Middle Schools. Dazu kommen rund 170 städtische und Gemeindeschulen sowie fast 1 200 Grundschulen. An der Annamalai-Universität in der Nähe von Chidambaram bestehen Fakultäten für Geistes- und Naturwissenschaften, Ingenieurswesen, Medizin, Landwirtschaft und Erziehungswissenschaften. Die Universität hat sich nicht zuletzt als Fernuniversität einen Ruf erworben.

Mehr über die Aktion "Bonn hilft" lesen Sie hier.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort