"Das Unglück lastet wie ein Mühlstein auf mir"

Der erste Verhandlungstag brachte keine neuen Erkenntnisse, wie es zu dem Zugunglück von Brühl kommen konnte - Der Lokführer verweigert die Aussage und lässt den Richter einen Brief verlesen

Köln. Sascha B. starrt vor sich hin, wirkt stark unruhig, zieht immer wieder die Augenbrauen zusammen, ist offensichtlich psychologisch schwer angeschlagen. Neben dem 29-Jährigen sitzt ein Berater, der wieder und wieder lächelnd auf ihn einspricht. Der angeklagte Lokführer reagiert kaum, sitzt im schwarzen Jackett und blauem Hemd da und schweigt. Er wurde in den letzten Monaten nahezu völlig abgeschirmt, gilt als selbstmordgefährdet.

Die Eingangskontrolle zum Saal 112 im Kölner Landgericht an der Luxemburger Straße ist schärfer als am Flughafen. Dabei sitzen keine Schwerverbrecher auf der Anklagebank, sondern vier Männer von der Bundesbahn. Der voll besetzte Saal ist völlig schmucklos. Eine Seite ist verglast. Man schaut auf Graffiti und verrostete Silo-Rohre. Wenige Minuten nach neun Uhr betreten die Mitglieder der Ersten Großen Strafkammer den Sitzungssaal.

Der Vorsitzende Richter Heinz Kaiser (61) lässt sich kurz die Personalien bestätigen. Routine. Staatsanwalt Jürgen Krautkremer (53) verliest die Anklageschrift, spricht von fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung. Der Ankläger erklärt, dass ein eindeutiges Signal im Baustellenbereich des Bahnhofs Brühl eine Höchstgeschwindigkeit von 40 Kilometern pro Stunde vorgeschrieben habe.

Wenige Minuten nach Mitternacht war Sascha B. mit dem Nachtexpress D-203 von Amsterdam nach Basel am 6. Februar 2000 mit Tempo 122 über eine Weiche gerast und entgleist. Neun Tote, 149 Verletzte, davon 38 schwer. Gestern begann die juristische Aufarbeitung der Katastrophe von Brühl. 15 Verhandlungstage sind geplant. Am 10. August will Richter Kaiser die Urteile verkünden. Sie können bis auf fünf Jahre Haft lauten. Der Staatsanwalt wendet sich den drei Mitangeklagten zu. Zwei von ihnen hätten es unterlassen, eine automatische Gleisbremse in den Gleiskörper einzubauen. Dem Dritten wirft Krautkremer vor, in die schriftliche Fahranweisung für den Lokführer versehentlich eine Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometer eingetragen zu haben.

Die Verlesung der Anklage dauert gerade fünf Minuten. Dann die erste Überraschung. Zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft verweigerten die Angeklagten die Aussage. Kaffeepause. Dann äußerte sich doch der 35-jährige Sachbearbeiter Jens H. Er war für die schriftliche Fahranweisung zuständig. Er räumt einigermaßen deutlich ein, dass die Tempoangabe 120 für Sascha B. irritierend gewesen sein könnte. Er sei jedoch davon ausgegangen, dass der Lokführer auf die Signale an der Strecke achten würde, die Tempo 40 vorgeschrieben hätten. Hier sieht die Rechtsanwältin des Zugführers, Susanne Westphal, kritisch den Sachbearbeiter im offenen weißen Hemd an. Sie wird ihre Verteidigungsstrategie auf diese Zahl 120 konzentrieren. Im Landgericht folgt ein verbales Gewitter im Fachchinesisch der Eisenbahner. Abkürzungen jede Menge. "Betra" zum Beispiel, was für Betriebs-Bauanweisungen steht. Oder "La", was so viel wie Langsamfahranweisung bedeutet. Richtlinie 406, Gleis ZS1, Gleiswechselbetrieb, Triebfahrzeugführer, Ungültigkeitskreuze. Es hörte sich mehr nach einem Eisenbahner-Seminar als nach einem Strafprozess an.

Etwas munterer wurde es nach der Vernehmung des Betriebsinspektors Heinz S. (56). Die Anwältin Westphal versuchte immer wieder, den Beamten in Widersprüche zu verwickeln. Sehr sicher wirkte der Mann dabei nicht. "Hat man sich schon einmal Gedanken gemacht, das Regelwerk zu verändern?", fragte der Richter. Grund: In Fahrtrichtung Koblenz/Köln sind Gleismagnete installiert, die einen Zug abbremsen. In umgekehrter Richtung ist das nicht der Fall.

"Ich würde mein Leben dafür geben, das Unglück ungeschehen machen zu können". Dieser und andere Sätze von Sascha B. werden im Gerichtsaal vom Richter verlesen. Regungslos und stumm hört B. von der Anklagebank aus zu. "Das Unglück wird mein ganzes weiteres Leben wie ein Mühlstein auf mir lasten".

In dem persönlichen Brief an Kaiser wies Sascha B. jegliche strafrechtliche Schuld von sich. Er sei davon überzeugt, dass die Signalgebung eine Höchstgeschwindigkeit von 120 erlaubt hätte. Zudem habe auch die schriftliche Anweisung diese Geschwindigkeit gestattet. Auch habe er nach seinem Ausbildungsstand die Signale nicht anders verstehen können. Darauf wird das Gericht noch zurückkommen. In einem Bericht des Eisenbahn-Bundesamtes wurde Kritik an der Ausbildung von B. geübt.

Für den Prozess sind 73 Zeugen und drei Sachverständige geladen. Opfer des Unglücks sind in Köln mit vier Nebenklägern beteiligt. Der nächste Verhandlungstag ist am kommenden Dienstag.

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