Internationaler Tag zur Erhaltung der Ozonschicht Der vergessene Patient

Der UV-Schutzschirm heilt unerwartet langsam zu. Auch ein Ergebnis von Zufälligkeiten. Wie bei der "Entdeckung des Ozonlochs", die eine plötzliche Erkenntnis. suggeriert. Doch die tatsächliche Geschichte berichtet von blind gestellten Satelliten und eifrigen Lobbyisten.

 In fünf Tagen wird die Sonne nach dunklen Wintermonaten wieder über den Horizont der Antarktis lugen: Licht und Kälte werden dann wieder das Chlor aus den Alt-FCKWs hebeln und den Ozonflaum zerstören. Das Ozonloch 2013 war das kleinste in den letzten 20 Jahren.

In fünf Tagen wird die Sonne nach dunklen Wintermonaten wieder über den Horizont der Antarktis lugen: Licht und Kälte werden dann wieder das Chlor aus den Alt-FCKWs hebeln und den Ozonflaum zerstören. Das Ozonloch 2013 war das kleinste in den letzten 20 Jahren.

Foto: NASA

Obwohl Gotteskrieger und Kriegsängste in Europa die Welt in Atem halten: Es gibt elementarere Gefahren. An eine will morgen der 1994 von den Vereinten Nationen ausgerufene "internationale Tag zur Erhaltung der Ozonschicht" erinnern.

Er wird sicher durch den Rost der weltweiten Aufmerksamkeit fallen. Zu Unrecht. Denn der erdumspannende Schutzschirm heilt unerwartet langsam. Ein hauchdünner Flaum aus Ozonmolekülen in 12 bis 50 Kilometer Höhe (Stratosphäre) schützt das Leben auf der Erdoberfläche vor der tödlichen Mitgift der Sonne: UV-Strahlen, die - im harmlosesten Fall - Sonnenbrand und - im schlimmsten Fall - Hautkrebs auslösen können. Bis hin zu genetischen Mutationen, Ernteeinbußen und einem Zusammenbruch der marinen Nahrungskette.

Das Gedenkdatum lässt sich auch in einen "internationalen Tag des mutigen Wissenschaftlers" umwidmen. Denn die Rettungsoption für den UV-Schutzschirm ergab sich nur, weil unbeirrte Forscher sich weder vom wissenschaftlichen Establishment noch von mächtigen Lobby-Organisationen beeindrucken ließen; sie entlarvten die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) als "Ozonkiller".

So wurden aus vermeintlichen Spionen des sowjetischen Geheimdienstes KGB eines Tages Chemie-Nobelpreisträger. Es war ein 13 Jahre währender Kampf zwischen Ignoranz, Standesdünkel und Missverständnissen, bis aus wissenschaftlicher Erkenntnis eine politische Handlungsanweisung entstanden war. Doch dann handelte die Welt zügig: Am 16. September 1987 unterzeichneten die Staaten das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht (siehe "Das Erfolgs-Protokoll"). Damit war das globale FCKW-Verbot perfekt.

Dahinter entspinnt sich jedoch ein Krimi aus der Wissenschaft. Er beginnt vor 96 Jahren, als 1918 in Detroit die ersten Kühlschränke auf Ammoniak-Basis verkauft werden. Die kühlenden Chemikalien sind giftig und neigen zu Explosionen. Deshalb werden auch nur 61 Exemplare verkauft.

Ein Jahr später, 1919, wird James Lovelock nördlich von London geboren. Bald wird er ein neugieriger Junge sein und viel später für die Nasa darüber nachdenken, mit welchem Instrument an Bord einer Sonde man am besten nach Lebensspuren auf dem Mars sucht. Zu dieser Zeit ist Thomas Midgley bereits 30 Jahre alt und ein findiger Maschinenbau-Ingenieur bei General Motors in Detroit (USA).

Blei-Konzentration beeinträchtigte die Gesundheit

1924 entdeckt Midgley, wie sich das Klopfen in Verbrennungsmotoren verhindern lässt: Indem man dem Benzin Blei beimischt. Es ist eine Zeit, in der es noch keine strengen Prüfungen für eine neue Sub-stanz gibt. Weder einen Unbedenklichkeits-Check für die Umwelt noch für die menschliche Gesundheit.

In großen Mengen werden in den nächsten Jahrzehnten immer mehr Autos Blei in die Atmosphäre und Winde das Blut- und Nervengift um die Erde blasen. Von Arbeitern, die das Benzinadditiv herstellen, werden Gehstörungen und Wahnvorstellungen berichtet. Einige sterben. Erst sehr viel später wird der Mensch erkennen, wie sehr bereits winzige Blei-Konzentrationen die menschliche Gesundheit beeinträchtigen.

Keine Kühlschrank-Explosionen mehr durch FCKW

1929 löst Midgley auch das Kühlschrank-Problem. Die von ihm komponierten FCKW garantieren, dass kein Kühlgerät mehr explodiert. FCKW sind auch sichere Treibmittel für Deodorants, Asthma-Inhalatoren und vieles Segensreiche mehr.

Für sein Patent US-2192143 hätte Midgley statt Chlor auch Brom in das Wundermittel einbauen können, aber Chlor ist preiswerter. Eine eher vom Zufall gesteuerte Wahl, die Jahrzehnte später Forscher schockieren wird, weil dieser Zufall auch eine Katastrophe ohne Rettungsoption hätte produzieren können.

Auf Midgleys Erfindung folgt ein Siegeszug der FCKW in Klimaanlagen, Schaumstoffen und als Reinigungs- und Lösungsmittel. Es ist eine Substanz, die in der Natur nicht vorkommt, aber jetzt (1929) in die Natur entlassen wird.

Zudem erfüllt sie den Traum jedes Chemikers: geruchlos, nicht entzündlich, ungiftig, leicht zu handhaben. Midgley überzeugt mit einem skurrilen Selbstexperiment, das seine Kollegen erstarren lässt: Er pumpt mit einem langen Atemzug seine Lunge voll FCKW und bläst dann ein Kerzenlicht aus. Wow! Tatsächlich: nicht gesundheitsschädlich und auch nicht entzündlich.

Die Lehrmeinung sagt damals, dass FCKW inert seien: Sie reagieren nicht mit anderen Stoffen. Jedenfalls nicht auf der Erdoberfläche. Und weil die Kunstmoleküle nicht in die Stoffkreisläufe des Planeten eingebunden sind, leben sie lange, einige bis zu 640 Jahre. Dadurch reichern sie sich immer mehr in der Lufthülle an.

Die FCKW-Produktion steigt und steigt, bald auf über eine Million Tonnen pro Jahr. Im großen Luftozean erscheinen dem Menschen Tonnen wie Sandkörner. Es herrscht das Bewusstsein: Der Mensch ist so klein, die Erde so groß, die Natur so mächtig - unvorstellbar, dass einige Moleküle aus Menschenhand mächtiger sein sollen. Auch ist die Chaostheorie 1929 noch Zukunftsmusik, weshalb die Meinung vorherrscht, dass nur große Ursachen große Wirkungen haben können.

1938 bewirbt Lovelock sich als Laborassistent in London. Sein Arbeitgeber besteht darauf, dass der 19-Jährige sich im Abendstudium der Chemie widmet. Lovelock, ein Querdenker, willigt ein. Fünf Jahre später erkrankt Midgley, inzwischen 51-jährig, an Kinderlähmung. Der Inhaber von 171 Patenten ist ans Bett gefesselt. Midgley ertüftelt eine Konstruktion aus Schnüren und Umlenkrollen, die ihn aus dem Bett hebt. Am 2. November 1944 verheddert er sich in seiner letzten Erfindung, die ihn schließlich stranguliert.

Lovelock wird Chemie-Professor

Als Midgley stirbt, hat Lovelock sein Chemiestudium längst beendet. Er ist weiter von Neugierde getrieben. 1948 promoviert er in Medizin, 1959 in Biophysik. 1961 folgt er einem Ruf aus Texas, wird Chemie-Professor in Houston (USA).

Lovelock ist nicht nur Universalgelehrter, sondern auch, wie einst Midgley, Tüftler aus Passion. Sein Elektroneneinfangdetektor (ECD) überrascht mit einer Sensibilität, die nicht vorstellbar ist, die zum Beispiel auch Moleküle eines aufgelösten Zuckerwürfels im Atlantik aufspüren könnte.

Etwas zu messen, was zuvor niemand gemessen hat, kann eine starke Triebfeder sein. Lovelock ist in der FCKW-Frage nur Techniker. 1970 erklärt er einem Laienpublikum: "Stellen Sie sich eine Weinflasche vor, gefüllt mit FCKW. Ich schütte den Flascheninhalt in einen Eimer in Japan, überlasse den Inhalt der Luft, und in zwei Jahren kann der ECD die FCKW an jedem Ort der Erde nachweisen."

Anfang 1971 stellt Lovelock einen Förderungsantrag beim britischen Natural Environment Research Council (NERC). Er will im Forschungsschiff "Shackleton" in die Antarktis mitfahren und FCKW-Moleküle messen. Die NERC-Kommission hält seine Ankündigung, etwas in Billionstel Teilen messen zu können, für "Aufschneiderei". Antrag abgelehnt. Lovelock fährt auf eigene Kosten trotzdem mit.

"Das Vorhandensein dieser Verbindungen stellt keine erkennbare Gefahr dar."

Im selben Jahr veranstaltet DuPont, weltweit größter FCKW-Hersteller, eine Konferenz zur FCKW-Ökologie. Als Problem sehen Forscher das extrem hohe Treibhauspotenzial der Moleküle, solange sie in der unteren Atmosphäre weilen. Rund fünf Jahre braucht es, bis sie in die Stratosphäre aufsteigen.

Bald kehrt Lovelock aus der Antarktis zurück. Im Januar 1972 hält er einen Vortrag und berichtet, was er gemessen hat, etwa Moleküle mit dem unaussprechlichen Namen Trichlorfluormethan - ein Kältemittel aus der FCKW-Gruppe. Auch Professor Sherwood Rowland, ein Chemiker aus San Diego, hört aufmerksam zu.

Lovelock veröffentlicht 1973 in "Nature" seine Ergebnisse: "In der südlichen Hemisphäre maß ich etwa 40 Teile pro einer Billion, in der nördlichen 50 bis 70. In solchen Mengen lassen sich die meisten chemischen Giftstoffe unbegrenzt einatmen oder schlucken, ohne dass man dabei Schaden nähme."

Lovelock hält es mit Paracelsus, wonach das Gift die Dosis sei; er fürchtet die Umwelt-Hypochonder, die Eiferer, die seine Messergebnisse als Einladung für ein Untergangsdrama missbrauchen könnten. Deshalb schickt er seiner Veröffentlichung den Satz voraus: "Das Vorhandensein dieser Verbindungen stellt keine erkennbare Gefahr dar." 15 Jahre später bereut er: "Dieser Satz sollte sich als einer meiner größten Fehler herausstellen."

Das Unternehmen DuPont rechnet intern Lovelocks Werte hoch. Sie entsprechen weitgehend den FCKW-Mengen, wie sie seit 1929 freigesetzt worden sind. Es beunruhigt nicht, dass das Zeugs nicht verschwindet. Schließlich bestätigt die Messung nur die Vorhersage: FCKW reagieren mit nichts und niemandem.

"Der zarte Ozonflaum ist die Achillesferse der Menschheit"

Die Frage, ob das wirklich so ist, hat Chemiker Rowland nach Lovelocks Vortrag längst elektrisiert. An der University of California experimentiert er mit dem mexikanischen Kollegen Mario Molina und simuliert im Labor, wie sich die Kunstmoleküle im Tieffrostfach der Antarktis verhalten, wenn die Sonne aufgeht.

Monate später kommt Rowland nach Hause. Seine Frau fragt nach. Er murmelt: "Die Arbeit geht gut voran, aber es sieht nach dem Ende der Welt aus." Molina und Sherwood haben herausgefunden, dass im oberen Stockwerk der Atmosphäre eine spezielle Frostchemie in Gang kommt. UV-Strahlen würden das Chlor aus den FCKW-Molekülen hebeln und diese Chloratome die raren Ozon-Moleküle zerstören.

Sie veröffentlichen ihr Wissen am 28. Juni 1974 in "Science": "FCKW schwächen die Ozonschicht genug, um eine deutliche Zunahme von Hautkrebs hervorzubringen. Vielleicht genug, um das Klima durcheinander zu bringen, indem sie das Temperaturprofil der Stratosphäre umdrehen."

Was meint Rowland mit dem "Ende der Welt"? Bakterien hatten in Jahrmillionen Sauerstoff produziert, der sich allmählich in der Atmosphäre anreicherte. In der Stratosphäre angekommen, verschweißten die UV-Salven der Sonne je drei Sauerstoffatome (O) zu einem Ozonmolekül (O3). Es entstand ein Schleier aus Ozon-Molekülen, der rund 90 Prozent der lebensfeindlichen UV-Strahlung herausfiltert.

Das Leben wagte sich daraufhin aus dem Ozean und besiedelte die Landflächen. Wenn der Mensch von "Ozonschicht" spricht, suggeriert das falsche Vorstellungen: Auf 100 000 Luftmoleküle kommt ein Ozonmolekül, und würde man diesen Schleier zusammenpressen, entstünde eine zwei bis drei Millimeter "dicke" Ozonschicht. Das Ganze ist weniger ein stabiler Schutzwall als eine fragile Pergamenthülle. Rowlands und Molinas Botschaft: Der zarte Ozonflaum ist die Achillesferse der Menschheit.

Doch Hypothese und Warnung der Chemiker aus Kalifornien verhallen. Auch deshalb, weil die seit 1957 durchgeführten Ozon-Messungen rund um den Globus durchweg stabile Werte zeigen. Mit einer Ausnahme: Über der britischen Antarktis-Station Halley Bay sinken die Ozonwerte.

Selbstzweifel und Angst vor einer wissenschaftlichen Blamage

1955 sind es 350 Dobsen-Einheiten Ozon, 1975 nur noch 280 und 1979 noch weniger. Für Atmosphären-Chemiker Joseph "Joe" Farman sind das "bizarre Werte". Er glaubt, sein Spektral-Photometer sei falsch geeicht und ordert ein neues. Doch das misst noch weniger Ozon. Der Brite ist verunsichert, ebenso der Japaner Sui Chubachi, der unabhängig von Farman 1982 noch niedrigere Ozonwerte am Südpol misst.

Selbstzweifel und Angst vor einer wissenschaftlichen Blamage lassen die Forscher zaudern. Eine Veröffentlichung der Daten würde bedeuten, die Nasa herauszufordern, deren Satellit Nimbus-7 mit hochempfindlichen Sensoren seit 1978 um die Erde rotiert und schließlich nichts Auffälliges über der Antarktis registriert hat.

Wertvolle Jahre gehen ins Land. Zwischen 1975 und 1985 steigt die FCKW-Freisetzung an der Erdoberfläche nochmals um 360 Prozent. Farman und Kollegen entschließen sich Ende 1984 doch zu einer Veröffentlichung und reichen ihr Manuskript bei "Nature" ein.

Die Gutachter der Fachzeitschrift reagieren mit Kopfschütteln. Diese Messdaten zu veröffentlichen, wäre ein Frontalangriff auf die Lehrmeinung. Aber wie ständen die Gutachter da, wenn Farman & Co. recht hätten? Die Aussicht darauf lässt sie grünes Licht geben.

Auch Nasa-Forscher lesen "Nature". Sie wissen, was die Veröffentlichung bedeutet. Sie fühlen sich alarmiert, lassen sofort den Datenabfall ihres Satelliten durchstöbern - und merken, wie die Lehrmeinung den Programmierern Kopf und Hand geführt hat: Die Software des Satelliten war so justiert, dass extreme Werte nicht toleriert wurden und gleich im elek-tronischen Mülleimer landeten.

Der war zum Glück noch nicht geleert. 1985 bestätigt die Nasa öffentlich Farmans Messungen. Wenn die Medien heute 1985 als Entdeckungsjahr des "Ozonlochs" festschreiben, ist das weniger als die halbe Wahrheit.

Die Menschheit schreckt auf, und die Medien machen aus dem ausgedünnten Flaum das öffentlichkeitswirksamere "Ozonloch". Viele hören zum ersten Mal, dass es "da oben" ein Gas gibt, das vor Hautkrebs und Erblindung schützt - Ozon, das der Mensch auf der Erdoberfläche als Desinfektionsmittel nutzt.

Paul Crutzen erkennt die Ursache

Eine Flut von Briefen besorgter Amerikaner überschwemmt die Kongressabgeordneten. Das hat es seit dem Vietnamkrieg nicht mehr gegeben. Im besonders betroffenen Australien gehört ab sofort der UV-Strahlungsindex zum Wetterbericht.

Luftchemisch bleibt jedoch ein Rätsel. Warum sinkt der stratosphärische Ozonpegel schneller und stärker als von Molina und Rowland erwartet? Was wurde übersehen? Es schlägt die Stunde von Paul Crutzen. Der niederländische Chemiker am Max-Planck-In-stitut in Mainz entdeckt als Ursache die polaren Stratosphärewolken. Ihm verdankt der Mensch die Korrektur seiner Vorstellung, dass hohe Wolken über der Antarktis aus reinem Wassereis bestehen.

Sie tragen an ihrer Oberfläche vielmehr Salpetersäure-Partikel, was das Aushebeln der Chloratome aus den FCKW-Molekülen erleichtert. Crutzens Formelwerk strukturiert komplizierte und sich überlagernde Photo- (UV-Strahlen) und Chlorchemie, hat aber mit der Tieffrostchemie auch einen meteorologischen Faktor. Denn ohne extreme Minusgrade funktioniert der Ozonabbau nicht. Das erklärt, warum "es" in der Antarktis drastisch und regelmäßig passiert und in der wärmeren Arktis seltener.

Wie heute in der Klimawandel-Frage gibt es auch damals wissenschaftliche Zweifler und betroffene Industrien. Doch 1987 reagiert die internationale Politik ungewohnt schnell. 1995 erkennt auch das Nobelkomitee die Bedeutung der Erkenntnisse von Molina, Rowland, beide einst von US-Verbänden als KGB-Kräfte verspottet, und Crutzen. Gemeinsam erhalten sie den Chemie-Nobelpreis - der erste, der für die Identifizierung eines Welt- Umweltproblems vergeben wird.

2001 ist die Ozonsäule über der Antarktis auf unter 100 Dobson-Einheiten zusammengeschrumpft, das Ozonloch über dem Südpol im antarktischen Frühling zum vierten Mal in Folge so groß wie Nordamerika. Auch über der Arktis schrumpft im Frühjahr das Ozon. Da ist das Montreal-Abkommen (1987) zum Verbot der FCKW schon 14 Jahre alt. Das zeigt, wie träge die Atmosphäre auf Verhaltensänderungen an der Erdoberfläche reagiert. Aber auch: Dass sie reagiert.

Der Schreck der Menschen über die (fast) unbemerkte Zerstörung des UV-Schutzschirms über ihren Köpfen verflüchtigt sich nur langsam. Doch sie sind Ahnungslose. Wie nahe alles UV-empfindliche Leben tatsächlich am Abgrund stand, wissen nur wenige. Forscher, die sich an die Anfänge der Problem-Wahrnehmung erinnern, sprechen von "schlaflosen Nächten" und "Gänsehaut", denn sie kennen alle damaligen Optionen von Midgley und die viel stärkere Ozon-Zerstörungskraft von Brom.

Crutzen hat einmal gesagt: "Wenn Brom statt Chlor (bei den Kühlschränken/Anm. d. Red.) zum Einsatz gekommen wäre, wäre eine Katastrophe nicht zu vermeiden gewesen." Crutzen meint damit den kompletten Ozonverlust zwischen Äquator und Polen. Crutzen: "Mehr aufgrund von Glück als von Klugheit hat sich diese Situation nicht entwickelt. Dann wären wir mit unseren Entdeckungen zu spät gekommen. Es war zwei nach zwölf."

Ohne Midgleys FCKW-Geistesblitz hätte es kein Ozondrama gegeben

Aber auch nach Midgleys eher zufällig "richtiger" Auswahl des kleineren Übels hatte der Mensch alle Chancen, mit der Chlor-Variante in die Katastrophe zu rennen. Was wäre passiert, wenn der eigenwillige Lovelock die Ablehnung seines Förderantrags einfach hingenommen hätte?

"Das etablierte Qualitätssicherungswesen der Wissenschaft wurde nur knapp davon abgehalten zu verhindern, dass der erste Stein ins Rollen gebracht wurde, der zur Entdeckung eines Jahrhundertereignisses führte" - ein Satz aus dem Buch "Die Blindheit der Gesellschaft" von Hans-Jochen Luhmann, Klimatologe und Soziologe am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie.

Und wie wäre der Zustand des Ozon-Schutzschirms heute, hätten nicht Molina und Rowland in ihrem Labor die Lehrmeinung hinterfragt? Oder Farman und Chubachi: Einen Deut mehr Angst vor dem Spott der Kollegen, und sie hätten ihre Messergebnisse für sich behalten. Oder die Nasa: Extreme Werte hielt man für unmöglich; man wollte nur das Erwartete wissen, besaß aber schließlich die Größe, eine falsch programmierte Software zuzugeben.

Was ist aus den Männern der ersten Stunde an der Ozon-Forschungsfront geworden? Von den fünf Helden leben noch vier: Rowland starb 84-jährig 2012, Farman mit 83 Jahren ein Jahr später. Molina (71) forscht in San Diego weiter, während Lovelock (95) und Crutzen (81) vor dem nächsten "atmosphärischen Problem" warnen: der globalen Erwärmung und den ungezügelten Treibhausgas-Emissionen.

Lovelock schreibt: "Ich glaube, dass wir kaum eine andere Wahl haben, als uns auf das Schlimmste vorzubereiten und davon auszugehen, dass wir die Schwelle bereits überschritten haben." Crutzen rechnet hingegen mit Überraschungen: "Es wird noch Sachen geben", sagt er, "an die wir jetzt noch gar nicht denken."

Doch ohne Midgleys FCKW-Geistesblitz mit den verheerenden Folgen hätte es gar kein Ozondrama gegeben. Jahrzehnte später merkt der US-Historiker John McNeill an, dass "nie zuvor ein einzelner Organismus mehr Auswirkung auf die Atmosphäre hatte" - als Midgley.

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