Klimawandel: Extreme Risiken werden ausgeblendet Verschwiegene Wahrheiten

"Es ist Fünf vor Zwölf": Das erzählen uns Politik und Medien seit 30 Jahren, obwohl die Treibhausgas-Weltemission von Jahr zu Jahr steigt. Die Klimaszenarien blenden extreme Gefahren aus. Eine Spurensuche

Irgendwo auf der Welt passiert ständig eine extreme Abweichung von der Wetternorm: Straßen werden zu Flüssen, Stürme zu überladenen Wasserdampfmaschinen, Flüsse wiederum zu Rinnsälen. Selbst zuversichtliche Zeitgenossen zweifeln inzwischen daran, dass der Mensch das mit dem Erdklima noch hinbekommt. Dennoch machen Politik und Medien stoisch immer die selbe Zeitansage: „Fünf vor Zwölf“.

Jedes Jahr, immer wieder. Obwohl die Treibhausgas-Weltemission weiter gestiegen ist und folglich auch der atmosphärische Gehalt von Kohlendioxid (CO2). Dieser Messwert (siehe Info-Kasten) ist der einzige, der das komplexe Thema wie in einem Brennglas bündelt und objektiv über den Erfolg aller Bemühungen berichtet. Demnach haben 23 UN-Klimagipfel nichts gebracht. Auch das Kyoto-Protokoll war wirkungslos, so wie jeder andere Schritt in die richtige Richtung.

Wer oder was hat die Klimarettungsuhr angehalten? Wer zeigt der Öffentlichkeit an, wie spät es wirklich ist? Wie kann es sein, dass die Diplomaten der Welt quasi gestern (2015) in Paris über die Rettung des Erdklimas jubelten und die Öffentlichkeit heute (2018) ein „Alles zu spät“ für möglich halten muss?

Diese Geschichte über den Klimawandel handelt vom Forschungslabor, der Politik, den Medien und dem Informationstransfer bis zum „Endverbraucher“ in der sogenannten Wissensgesellschaft.

Diese Geschichte begann vor Tausenden Jahren, als unsere Vorfahren noch in Höhlen hausten. In Horden schlugen sie sich durch die Unwägbarkeiten einer natürlichen Risikowelt. Die Gletscher kamen und gingen. Rund 200 000 Jahre unberechenbare Natur. Als das Holozän mit seinem Stabilklima die Menschheit vor rund 12 000 Jahren in den Arm nahm, wurden aus Jägern bald sesshafte Bauern und aus Höhlen später Megacities.

Geologische Kraftbrühe wird zu Kohle und Öl

Den Pusch dazu, dass aus 750 Millionen (1750) 7,6 Milliarden (2018) Menschen wurden, setzten kohlenstoffreiche Pflanzenleichen, entstanden aus dem Sonnenschein vor Urzeiten, die in geologischen Kochtöpfen landeten. Dort metamorphosierte diese Kraftbrühe über Jahrmillionen zu Kohle und Öl – hochkonzentrierte Energie. Wer sie verbrannte, konnte sich auf „Wagen ohne Pferde“ (1895) fortbewegen, später durch die Lüfte fliegen, mit Kunstdünger reiche Ernten einfahren und Strom aus der Steckdose saugen.

Inzwischen steht das Gros unserer Zivilisation auf den Schultern von Öl und Kohle – und nebenbei auch 1,2 Milliarden „Wagen ohne Pferde“. Pro Sekunde läuft ein Auto mit Verbrennungsmotor vom Band, das „uralten Sonnenschein“ verbrennt, wie die Fossilindustrie den Sprit einmal selbst nannte. Nebenwirkung: Das Verbrennen des „beerdigten Sonnenscheins“ setzt jenes CO2 wieder frei, das die Pflanzen einst der Atmosphäre entzogen hatten. Wer konnte glauben, dass die Rückführung einer gasförmigen Warmhaltepackung in die Lufthülle klimaneutral sein könnte? Dass der Segen ohne Fluch bleiben würde?

Eine andere atmosphärische Geschichte begann 1924, als Thomas Midgley die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) erfand, die den Kühlschrank explosionssicher machten. Kunstmoleküle, die in der Natur nicht vorkommen, aber reichlich Nutzen stifteten: für Klimaanlagen, Sprays, Schaumstoffe und vieles andere.

FCKW sind der Traum jedes Chemikers: nur Nutzen, keine Nebenwirkungen. Nicht entzündlich, geruchlos, ungiftig, vor allem „inert“; sie reagieren mit nichts und niemandem, was ihre Lebensdauer puscht. Sie ist sechs Mal länger als die von CO2 (100 Jahre). Chemie-Professor Sherwood Rowland und sein Doktorand Mario Molina interessieren sich 1973 trotzdem für die Chemikalie. Als Rowlands Frau nach dem Erkenntnisfortschritt im Labor fragt, antwortet der Forscher: „Die Arbeit geht gut voran, aber es sieht nach dem Ende der Welt aus.“

1974 melden Sherwood und Molina in „Science“ ihre Erkenntnisse. Kernsatz: „FCKW schwächen die Ozonschicht genug, um eine deutliche Zunahme von Hautkrebs hervorzubringen.“ Es ist, damals wie heute, nicht so, dass die Politik umgehend auf eine Studie reagiert. 1975 misst Joe Farman in der Antarktis 20 Prozent weniger Ozon in der Höhe, 1979 noch weniger und 1982 der Japaner Sui Chubachi nochmals weniger. Beide zaudern, ihre bizarren Werte zu veröffentlichen, schließlich rotiert seit 1978 der Nasa-Satellit Nimbus-7 mit hochsensiblen Ozon-Sensoren um die Erde – und hat nichts Auffälliges gemeldet.

Ozonloch: Die Lehrmeinung manipulierte die Software

Farman und Chubachi kämpfen auch mit der Angst vor einer Blamage: Wollen wir die mächtige Nasa herausfordern? Ende 1984 wagen sie es in „Nature“. Das Fachmagazin lesen auch Nasa-Forscher. Die sind sofort alarmiert und lassen den Daten-Mülleimer von Nimbus-7 durchstöbern. Bald dämmert ihnen, wie die Lehrmeinung den Programmierern den Kopf geführt hat: Die Software sollte Extremwerte automatisch aussortieren. 1985 bestätigt die Nasa Farman und Chubachi, da war der Laboralarm aber schon elf Jahre alt. Bald schockiert das „Ozonloch“ die Welt. In Australien steigt die Hautkrebsrate, in den USA überschwemmen Briefe besorgter Bürger die Kongressabgeordneten. Das hatte es seit dem Vietnamkrieg nicht mehr gegeben.

Wie heute in der Treibhausgas-Frage agiert auch damals eine Allianz aus Zweiflern und zeternden Lobbyisten, aber die Politik lässt sie links liegen. 1987 folgt das Montreal-Protokoll: FCKW werden verboten. Doch die Ozonschicht heilt langsamer als gedacht. 2001, 14 Jahre nach dem Abkommen, ist das Ozonloch zum vierten Mal in Folge so groß wie Nordamerika. Das zeigt, wie träge die Lufthülle reagiert, wie lange FCKW leben und wirken. Aber auch, dass zwischen erster Erkenntnis und Handeln damals 13 Jahre lagen – wertvolle Zeit, in der die Wissenschaft sich selbst zensierte und die FCKW-Freisetzung nochmals um 350 Prozent stieg. 2016 dann wieder eine ungewöhnlich dünne Ozonschicht. Seit einer US-Studie Anfang 2018 keimt der Verdacht, dass irgendwer auf der Welt heimlich FCKW produziert. Die Spur führe, so die Studie, nach Südostasien.

Das Montreal-Protokoll gilt heute als Vorbild – „die Menschheit kann, wenn sie will“ – für eine schnelle Reaktion auf die gefährliche Treibhausgasküche. Doch der Vergleich hinkt: Es ist eine leichte Übung, auf eine Substanz zu verzichten. Nun aber soll der Mensch vom „alten Sonnenschein“ lassen und jene Nabelschnur zerschneiden, die seine Leistung bis heute dopt (verzehntausendfacht) und die Hochenergie-Zivilisation erst ermöglichte.

Gegenüber der Entschlüsselung der komplizierten FCKW-Photo- und Tieffrostchemie ist die Treibhausgasfrage eher simpel: Je mehr CO2 die Zivilisation ausdünstet, desto wärmer wird es. Das ahnte bereits der Schwede Svante Arrhenius 1891. Mit Kopf, Mathematik, Bleistift und Papier lag er erstaunlich nahe an jenen Ergebnissen, wie sie später die Höchstleistungsrechner des 21. Jahrhunderts produzieren.

Das Naheliegende reicht der Politik nicht

Das Naheliegende reicht der Politik jedoch nicht. Sie verlangt immer genauere Szenarien und Hochrechnungen vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – um handeln zu können. Der 1988 gegründete UN-Weltklimarat veröffentlicht seitdem – 1990, 1995, 2001, 2007, 2013/14 – sein Bulletin zum Erdklima. Diese IPCC-Reports bestimmen stets weltweit die Schlagzeilen. Sie sind so etwas wie die Bibel des Klimawissens für alle – für die Politik, die Medien und damit für die Weltöffentlichkeit. Der Soziologe Niklas Luhmann analysierte einmal: „Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Das gelte nicht nur „für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Platon über Atlantis wusste: Man hat davon gehört“ – wie von den Botschaften des IPCC: Es gibt noch Hoffnung, die globale Erwärmung auf menschenfreundliches Niveau abzubremsen.

Seit Jahren dreht sich jedoch der Wind. Brandmarkten Klimaskeptiker die IPCC-Reports lange als panikschürend, erscheinen sie heute wie weichgespülte Konsenspapiere. Die Realität überholt ständig die Vorhersagen. Woran liegt das? Wurden extreme Szenarien aussortiert? Wie einst bei der Nasa extreme Ozonwerte? Als 2007 der vierte Report des UN-Weltklimarats erscheint, fehlt ein Diagramm. Es zeigte auf einen Blick, was alles passieren kann, wenn die Durchschnittstemperatur um zwei, drei oder vier Grad steigt. Ein riskantes Diagramm, denn es enthält Wertungen, die dem IPCC nach dem Verständnis der Politik nicht zustehen.

Das Streichen der Grafik habe „einen fundamentalen Konstruktionsfehler des Weltklimarats schonungslos aufgedeckt: Dass nämlich Regierungen die Forscher bei den entscheidenden Dokumenten zensieren können“, schreibt Professor Hans Joachim Schellnhuber, bis Anfang Oktober Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Die Deutungshoheit der politischen Gesandten schmerzt Forscher besonders, wenn für das Summary for Policymakers (Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger) Hunderte IPCC-Seiten auf 20 bis 30 zusammengepresst werden. Zwar hat der IPCC ein Vetorecht bei allzu frechen Streichungsbegehren, aber der zähe Konsensprozess hobelt dennoch Unangenehmes aus der Bibel weg. Unangenehm ist alles, was Politiker, sollte es in die Öffentlichkeit gelangen, in Erklärungsnot bringen oder ihnen zu viel Verantwortung aufbürden könnte. Das verhindert ein engmaschiger Interessenfilter aus 195 Staaten, der sich über jeden IPCC-Entwurf spannt.

Russen, Chinesen und Amerikaner feilschen über Adjektive

Das nächtliche Streiten und Feilschen über jedes Adjektiv ist oft kritisiert worden. Es ist die Paradedisziplin von Chinesen, Amerikanern und Russen, die auf anderen Politikfeldern selten einen Konsens finden. Mehr als 100 Mal hat 2007 allein die US-Delegation beantragt, ein „wird geschehen“ in „wird voraussichtlich geschehen“ zu verändern. Strategie: Abschwächen, extreme Vorhersagen streichen, um politische Ziele erreichbar erscheinen zu lassen. Anders als bei der „Entdeckung“ des Ozonlochs, als die Forschung selbst das Extreme aus dem Fokus verbannte, verwässert die Politik seit 30 Jahren die Erkenntnisse.

So spiegelt jede IPCC-Bibel kaum die reale Bedrohung, sondern viele Kompromisse – und bei den Risiken nur die Spitze eines Eisbergs. Wie auf kommunaler Bühne: Die Politik bestellt für ein gewünschtes Großprojekt ein Machbarkeits-Gutachten, gibt ein Ziel vor, und wenn sie es später nicht erreicht, beruft sie sich auf das Gutachten. Beim Weltklima schreibt die Politik sogar selbst mit. Nebenbei entsteht ein geschlossener Informations-Kreislauf, der die Erzählung bestimmt: IPCC, Politik und Medien prägen das Bild, das Menschen vom Klimawandel haben. Schellnhuber, Ex-Klimaberater der Bundesregierung, hat dem australischen Guardian anvertraut: „Politiker bevorzugen kleine Probleme, die sie lösen können und für die sie die Anerkennung bekommen. Sie mögen keine großen Probleme, die, selbst wenn sie Erfolg haben, die Belohnungen für ihre Nachfolger hinterlassen.“

Die Kritik an diesem Verfahren erscheint nicht in den Massenmedien, aber in Fachmagazinen oder Büchern, die keine Bestseller sind. Oder auf vielen Nebenveranstaltungen eines UN-Klimagipfels. Diese Kritik wird heftiger. 2007 monierten Forscher, das IPCC-Schlusspapier enthalte nur noch Aussagen mit hoher wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit, während weniger wahrscheinliche, aber dennoch mögliche und mit verheerenden Gefahren verbundene Risiken durch den Rost fallen.

Erste Risse in der öffentlichem Erzählung vom Klimawandel

Der polnische Forscher Zbigniew Kundzewicz bezeichnete den 2007er-Report als „aus politischen Gründen amputiert“. Sein Kollege Wolfgang Cramer meinte: „Die Öffentlichkeit erfährt einen wichtigen Teil der Wahrheit nicht.“ Und fragte: „Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das mit weniger als 33-prozentiger Sicherheit, aber mit mehr als 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt?“ Die Wissenschaftler schreiben mittlerweile vor das Gleichheitszeichen viele Hoffnungen und Illusionen, damit die Ziele, 1,5 oder 2,0 Grad, erreicht werden. Die CO2-Businesspläne für die Jahre bis 2050, wenn die Weltemission auf fast null sinken soll, werden immer unrealistischer.

Das löst Widerspruch aus. „Hinter der Fassade wissenschaftlicher Distanziertheit legen die Klimaforscher eine Stimmung kaum unterdrückter Panik an den Tag“, schreibt Clive Hamilton in „Requiem für eine Spezies“. Der australische Philosoph meint: „Niemand ist bereit, öffentlich zu sagen, was die Klimaforscher uns mitzuteilen haben: Dass es zu spät ist, eine globale Erwärmung zu verhindern, die noch in diesem Jahrhundert die Welt radikal verändern wird.“ Doch je weniger Forscher in den IPCC-Prozess eingebunden sind, um so deutlicher werden sie jetzt.

Einer heißt James Hansen. Der Nasa-Mann ist ein Warner der ersten Stunde. Als er Ende der 1970-er Jahre die von Sonden gefunkten Daten der Venus betrachtet, mutiert er zum Erdklimaforscher. Ein gigantischer Treibhauseffekt hat einen Planeten in der kosmischen Nachbarschaft zur Gluthölle werden lassen; die Venus ist weit heißer, als es der Sonnenabstand rechtfertigen würde. Hansen entwickelt Klimamodelle, steht 1988 mit der globalen Erwärmung erstmals vor dem US-Senat und 24 Stunden später auf Seite eins der New York Times.

Viele seiner Vorhersagen haben sich seitdem verwirklicht. Das Zwei-Grad-Ziel nennt er „ein Rezept für eine langfristige Katastrophe“. Gelegentlich beginnt er einen Vortrag mit einem Zitat von John F. Kennedy: „Der große Feind der Wahrheit ist sehr oft nicht die Lüge, die absichtlich, erfunden und verächtlich ist, sondern der Mythos, der fortbesteht, überzeugend und unrealistisch“ – der Mythos, die Menschheit könne mit dem Umlegen kleiner Schalter noch den sicheren Hafen erreichen.

Brisante Fußnoten: Wer liest das Kleingedruckte?

Im IPCC können nur Forscher mitwirken, die von ihren Regierungen vorgeschlagen werden. Das schied bei Hansen aus. Die US-Staatsgewalt hat den streitbaren Forscher bereits mehr als zehn Mal bei Klimaschutz-Demonstrationen verhaftet. Auch Kevin Anderson gehört nicht zum IPCC. Der Grund ist eher profan: Anderson fliegt aus CO2-Gründen nicht und könnte schon deshalb nicht an den IPCC-Treffen teilnehmen. Der britische Klima-Professor vom Tyndall Centre for Climate Change in Manchester ist weltweit gefragt. Den IPCC lobt er, das seien „intelligente Leute, die wissen, was sie tun. Meine Interpretation ist, dass sie sich innerhalb des Mainstream-Diskurses bewegen wollen“, wofür sie durchaus gute Gründe hätten. Etwa den, dass die einzige Macht, die das CO2-Problem lösen kann, die Politik, über den IPCC nicht den Kontakt zur Wissenschaft verliert. Der Preis dafür: „Sie schrauben so lange an den Annahmen herum, bis ihre Klimamodelle Resultate liefern, die politisch erträglich erscheinen.“

Auch der Meeresspiegelanstieg erscheint in den Projektionen erträglich. 2007 ist das Jahr, als die Menschen beginnen, sich den Meeresspiegelanstieg in Millimetern oder Zentimetern vorzustellen. Der Correctness-Kompass der IPCC-Gemeinde lässt eine verhängnisvolle Fußnote entstehen, während im Haupttext maximal 59 Zentimeter bis 2100 stehen. Die Berechnungen enthalten nicht einen Tropfen aus Grönland oder Westantarktis, weil das Verständnis der dynamischen Schmelzprozesse „beschränkt ist, um die Wahrscheinlichkeit beurteilen zu können, und es gibt keinen Konsens über deren Ausmaß“.

Nur: Wer hat das Kleingedruckte gelesen? 2014 erhöht der IPCC den schlimmsten Fall bis 2100 auf 82 Zentimeter. Satelliten hatten zwischenzeitlich verdoppelte Anstiegsraten gemeldet. Schleswig-Holstein geht indes auf Nummer sicher – und erhöht seine Deiche bis 2100 um 1,70 Meter. Man kann sich der wahrscheinlichsten Zukunft auch über die Vergangenheit nähern: Während der letzten Warmzeit vor etwa 120 000 Jahren, als es rund zwei Grad wärmer war als um 1750, lag der Meeresspiegel um vier bis über sechs Meter höher, teilweise stieg er um 1,5 Meter pro Jahrhundert.

Wenn die Lunte zündet, verlieren wir jede Kontrolle

Die Modelle, gekoppelt mit immer leistungsfähigeren Höchstleistungsrechnern, tun sich weiter schwer mit den chaotischen Eigenschaften des Klimas – mit dem unberechenbaren Geschehen in den Eisschilden oder den Dauerfrostböden, in denen tiefgefrorene Gigatonnen Treibhausgase schlummern. Ab welcher Durchschnittstemperatur zündet die Lunte? Danach läge das Klimasystem außerhalb jeglicher menschlicher Kontrolle. Die Zwei-Grad-Leitplanke sollte gerade das vermeiden. Allein ein Szenario, dass die Erwärmung aus sich selbst heraus verstärken kann, sprengt die Vorstellungskraft der Menschen. Sie sind eher mit linearen Verläufen vertraut, wonach eine etwas höhere Temperatur nur eine etwas stärkere Wirkung provoziert. Der Erdsystemforscher Richard B. Alley hat das Unvorstellbare einmal zu veranschaulichen versucht: „Wenn Sie sich allmählich zur Seite lehnen, beginnt sich das Boot zu neigen. Durch Ihre Bewegung drücken Sie es auf eine Kippschwelle zu – eine Schräglage, jenseits derer sich das Kanu nicht länger aufrecht halten kann. Lehnen Sie sich nur ein wenig weiter nach außen, kentert es.“

Kaum war der von extremer Hitze und anhaltender Trockenheit geprägte Nordhalbkugel-Sommer vorüber, stellte der IPCC kürzlich vor Wochen in Südkorea seinen Sonderbericht zum risikoärmeren 1,5-Grad-Ziel vor. Tenor: Die Lage ist ernst, aber auch dieses Ziel sei noch machbar, wenn die Welt nun mit „beispielloser Geschwindigkeit“ reagiere; es steht also weiter „Fünf vor Zwölf“. Gleichzeitig wird eine Studie publiziert, die vor den Kipp-Elementen warnt, die die Erde unwiderruflich in eine Heißzeit schicken könnte. Spätestens jetzt wird die dominante öffentliche Erzählung unglaubwürdig. Problem: Bei den Kipp-Elementen wittert die Forschung weiter mehr als sie präzise weiß, über ein chaotisches System jemals wissen kann. Die Politik fordert indes eine perfekte Information, um handeln zu können, die die Wissenschaft nicht liefern kann.

Nun kursiert der durch Beobachtungen gestützte Verdacht, dass der 3000 Meter dicke Eispanzer Grönlands möglicherweise bereits bei 1,6 Grad Celsius mehr (gegenüber dem Jahr 1750) in seine unwiderrufliche Auflösung gleitet. 1,1 Grad sind 2018 schon erreicht. Sicher ist aber auch das nicht. Die – kühlenden – Partikel aus der Kohleverbrennung, so ein Verdacht, könnten die Temperaturmessungen verfälschen. Nach einem Kohleausstieg könnte diese Maske fallen. Eine geradezu diabolische Situation. Aktuell schwebt die Menschheit mit ihren Emissionen in eine Vier-Grad-Welt. Hört sich harmlos an, aber nach einer Weltbank-Studie überleben das 80 bis 90 Prozent der Weltbevölkerung nicht.

Auch am anderen Ende der Welt wächst die Kritik. Das in Melbourne beheimatete National Centre for Climate Restoration, eine Art australischer Think tank, analysiert, dass der IPCC-Zwang zur Konsensbildung stets zu den „kleinsten Dramen“ führe. Das sei verständlich, weil auf den IPCC „politischer Druck ausgeübt“ werde. Seit Jahren werde das Handeln unter der Annahme verzögert, „dass noch nicht erprobte Technologien uns den Tag retten werden“. Konservative Projektionen und wissenschaftliche Zurückhaltung hätten zu einem „Versagen der menschlichen Vorstellungskraft“ über jene Risiken geführt, die von geringerer Wahrscheinlichkeit, aber wuchtiger Wirkung seien.

„Schluss mit dem belanglosen Gerede!“

Es ist der bizarre Tanz um eine Gleichung, die entweder 2,0 oder 1,5 ergeben soll. Bereits die CO2-Hochrechnungen für den Pariser Klimagipfel (2015) enthielten – vor dem Gleichheitszeichen – „negative Emissionen“ (NETs): In 344 von 400 computersimulierten Szenarien, so der IPCC, sei das Zwei-Grad-Ziel nur noch zu erreichen, wenn das Zuviel an Gasmüll aus der Atmosphäre entfernt wird. „Die Klimaverhandler wissen, dass ihre Ziele anders nicht zu erreichen sind“, so Oliver Geden, der die Klimapolitik für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik beobachtet. Aber bis heute nimmt kein Klimapolitiker vor Mikrofonen NETs in den Mund. Aus gutem Grund: Die gesellschaftliche Akzeptanz von Technologien, die CO2 in die Erdkrume leiten und dort speichern, verspricht eine erregte Debatte über Restrisiken (wie beim Atommüll). Eine Studie des EU-Wissenschaftsrats resümiert: NETs werden vom IPCC überschätzt. Technologien dazu existieren bisher nur in den IPCC-Gleichungen, aber nicht in der Wirklichkeit.

Auf die Kosten kommt Ex-Nasa-Mann Hansen in Bonn zu sprechen. Auf einer Pressekonferenz zum Thema „Verschwiegene Wissenschaft“ am Rande des 23. UN-Klimagipfels Ende 2017 rechnet er vor: Die preiswerteste Annahme, um überschüssiges CO2 aus der Lufthülle zu holen, liege „bei 150 Dollar pro CO2-Tonne“. Das liefe – pro Jahr – auf eine unvorstellbare Summe hinaus, „auf die Hälfte des weltweiten Militärbudgets. Glauben Sie wirklich, dass das jemand jemals macht?“ Und das über mehrere Jahre? Für Hansen liegt der sichere Klimahafen bei einem atmosphärischen CO2-Gehalt von 350 ppm. Das sagt er seit 2008, aber keiner will es hören. In einem Bonner Nachbarsaal spricht indes Anderson über die Klimapolitik: „Schluss mit dem belanglosen Gerede! Ich habe den Beschluss von Paris nicht wie ein vages Ziel verstanden, sondern so, als ob es unsere Pflicht wäre, eine Auflage.“

Wie ein Autounfall in Zeitlupe, der bereits begonnen hat

Inzwischen ist der Klimawandel beides: Real, weil keine Woche ohne Jahrhundert-Wetterereignis vergeht, und doch ein Gespenst, weil er sich wie ein Autounfall in Zeitlupe anfühlt, der schon begonnen hat, aber dessen der Crash noch aussteht. Die öffentliche Aufführung dazu ist nur noch große Schauspielkunst, während der öffentliche Diskurs, etwa in Talkshows, an der Standard-Erzählung festhält und sich um die „kleine Dramen“ dreht, wie etwa Fleischkonsum, SUVs und den (zu) preiswerten Mallorca-Flug.

Rückblickend erscheinen alle UN-Klimagipfel wie ein Spiel auf Zeit, das John Sununu, einst Berater von US-Präsident George H. W. Bush (1989-1993), kürzlich in der New York Times erläuterte. Damals seien alle Staatsführer darauf bedacht gewesen, nur zum Schein Klimaschutz zu unterstützen, „offen gesagt, das ist es, wo wir noch heute stehen“ – nach 30 Jahren Wissenszuwachs, der alle Zweifel erstickte. Die Motive für Nicht-Handeln könnte aber eine noch entsetzlichere Ignoranz enthalten, wie Schellnhuber schreibt, der eine „Komplizenschaft der Politiker und ihrer Wähler bei der Benachteiligung künftiger Generationen“ vermutet. Aber auch das ist eine Hürde: Würde CO2 nicht nur mehr Wärme, sondern – wie beim Ozonloch – mehr UV-Strahlung und Hautkrebs bedeuten, gäbe es weniger Nichtstun.

Die Kurzsichtigkeit der Akteure spiegelt sich auch im Bezugsjahr 2100. Alle Szenarien enden dort. Als ob es danach keine Zivilisation mehr gebe. 2100 entspricht ungefähr dem Erlebenshorizont eigener Enkel oder Urenkel und liegt unendlich weit weg von einer Legislaturperiode. Die vor 2000 freigesetzten CO2-Moleküle aus „altem Sonnenschein“ existieren dann nicht mehr, sondern die Rekordemissionen von gestern, heute und morgen. Ganz sicher auch noch die von Midgley ertüftelten langlebigen FCKWs. Die „Ozonfresser“ haben die vieltausendfache Treibhauswirkung eines CO2-Moleküls. Eine Nebenwirkung, die zunächst übersehen worden ist.

Quellen: Die Untertreibung existenzieller Klimarisiken (National Centre for Climate Restoration, Melbourne 2017), Schweizer Wochenzeitung (mit Unterstützung des Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ), Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung (C. Bertelsmann Verlag 2015), IPCC-Reports 2007 und 2014 für politische Entscheidungsträger, Ressourcenprogramm Climate Matters der gemeinnützigen Nachrichtenagentur Climate Central (USA) zur Unterstützung von Forschern und Journalisten, EASAC-Studie (2018) der European Academies Science Advisory Council (EU-Wissenschaftsrat), Der Weltklimareport (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 405 S.)

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