Super Recognizer Scotland-Yard-Spezialisten in Köln im Einsatz

Köln · Menschen, die sich verblüffend gut Gesichter einprägen und diese jederzeit wiedererkennen können, heißen „Super Recognizer“. Sie werden von Scotland Yard außerordentlich geschätzt und manchmal auch ausgeliehen, zum Beispiel an Köln nach den Silvester-Vorfällen. Wissenschaftler haben die besondere Begabung noch nicht restlos entschlüsselt.

 Personen mit weit überdurchschnittlicher Gesichtserkennungs-Merkfähigkeit sind bei der Polizei heiß begehrt und werden bei der Suche nach Straftätern auch in größeren Menschenansammlungen fündig.

Personen mit weit überdurchschnittlicher Gesichtserkennungs-Merkfähigkeit sind bei der Polizei heiß begehrt und werden bei der Suche nach Straftätern auch in größeren Menschenansammlungen fündig.

Foto: picture alliance / dpa

Als die Kölner Polizei nach den Silvestervorfällen Anfang des Jahres zunehmend unter Druck geriet, ging ein Anruf von Scotland Yard ein. Man habe hier ein paar Spezialisten, ob man die mal vorbeischicken solle. Ein paar Tage später saßen die britischen Ermittler Eliot Porritt und Andy Eyle zwischen den Kölner Kollegen und scannten das Videomaterial der Überwachungskameras.

Porritt und Eyle sind sogenannte Super Recognizer – Menschen mit einer überdurchschnittlichen Gesichtsmerkfähigkeit. Die Metropolitan Police in London, die zu Scotland Yard gehört, führt eine ganze Abteilung dieser Spezialermittler. London gilt weltweit als Hochburg der Überwachungskameras. Um das Videomaterial gezielt nach Verdächtigen abzusuchen, setzt die Polizei auf Menschen wie Porritt und Eyle.

Zeigt man Super Recognizern ein Foto eines unbekannten Menschen, prägen sie sich dieses innerhalb von Sekunden ein. Gesichtszüge, Ausdruck und Proportionen – jedes Detail wird abgespeichert. Selbst Jahre später erkennen sie so Gesichter in einer Menschenmenge wieder. In Köln prägten die beiden Ermittler sich zunächst die Gesichter jener Frauen ein, die Anzeige erstattet hatten, weil sie sexuell belästigt worden waren.

Dann durchsuchten sie die Videoaufzeichnungen nach ihnen. Erkannten sie die Frauen im Gewusel der Menschen, verfolgten sie deren Weg durch den Hauptbahnhof, solange bis der Täter sich ihnen näherte. Diese Bilder nahmen sie als Ausgangspunkt, um sie mit den Fahndungsfotos zu vergleichen. Innerhalb von zwei Wochen identifizierten sie so mehrere Verdächtige.

Vorgehen von "Super Recognizer"

Doch wie gehen Super Recognizer vor? Mit dieser Frage beschäftigte sich als Erster der US-Wissenschaftler Richard Russell von der Universität Harvard. Eigentlich untersuchte er Gesichtsblindheit, die sogenannte Prosopagnosie. Dabei handelt es sich um ein Leiden, dass es Menschen erschwert, selbst nahestehende Personen wiederzuerkennen. Bei einem Großteil ist die visuelle Störung angeboren. Immer wieder stellten Ärzte auch Prosopagnosie nach Schlaganfällen oder Hirnschädigungen fest.

Forscher gehen davon aus, dass drei Hirnregionen bei der Gesichtserkennung beteiligt sind: Die sogenannten unteren Okzipitallappen an der Rückseite des Gehirns, die das Gesicht analysieren. Der vordere Schläfenlappen, der sie mit Informationen wie beispielsweise den Namen der Person versorgt. Und der sogenannte rechte Gyrus fusiformis, eine Gehirnwindung des Schläfenlappens, der für das Erkennen zuständig ist.

Letzterer ist bei Prosopagnostikern meist nicht aktiv. Welcher genetische Fehler dafür zuständig ist, wissen die Forscher nicht. Russell, der als erster Betroffene untersuchte, wurde neugierig: Wenn es Menschen gab, die besonders schlecht darin zu sein schienen, Gesichter zu erkennen, dann musste es auch das andere Extrem geben. Russel nannte sie „Super Recognizer“.

Und dann fahndete er nach Menschen mit dieser besonderen Begabung. Zunächst schaltete Russel eine Anzeige im Internet. Darin bat er Menschen, die glaubten, besonders gute Gesichtsmerkfähigkeiten zu haben, sich bei ihm zu melden. Schon bald wurde er fündig. Vier Probanden meldeten sich. Russell unterzog sie mehreren Tests, zeigte ihnen Kinderfotos von Prominenten und bat sie anzugeben, um wen es sich handelte.

Die Tests wurden immer schwieriger, die Bilder kleiner, die Qualität schlechter. Im April 2009 veröffentliche er die erste Studie über das Thema. Das Ergebnis: Selbst bei schlechtem Bildmaterial lagen die Super Recognizer weit über dem Ergebnis normaler Personen.

Doch immer noch war unklar, worauf die besondere Begabung der Super Recognizer beruht. Anna Bobak von der Bournemouth University war von dieser Entdeckung fasziniert. In verschiedenen Versuchen konnte sie zeigen, wohin Super Recognizer blicken, wenn sie sich Gesichter merken. Erst kürzlich veröffentlichte sie im „Quarterly Journal of Experimental Psychology“ eine Studie zu den Gesichtsbewegungs-Strategien der Super-Recognizer.

Das Resultat: „Während die meisten Menschen ihrem Gegenüber in die Augen schauen, blicken Super Recognizer auf die Nase. Sie orientieren sich also stärker an der Gesichtsmitte“, schreibt sie. Die Wissenschaftlerin glaubt, dass die Konzentration auf die Mitte des Gesichts eine Analyse breiterer Gesichtsbereiche erlaubt. „Schaut man nur auf die Augen, entgeht einem der untere Gesichtsteil. Geht man von der Gesichtsmitte als Blickfixpunkt aus, kann man die Form, Größe und Position von Nase, Mund und Augen von diesem zentralen Punkt aus besser miteinander vergleichen.“

Menschen benutzten in der Regel ganzheitliche Verarbeitungsstrategien, um ein Gesicht zu erkennen. Dabei glichen sie innerhalb von Millisekunden die Gesichtsproportionen ab und berechneten die Abstände der einzelnen Gesichtszüge. Diese Augenbewegungen und die Bearbeitung der Infos liefen bei Super Recognizern wohl effizienter ab: Das primäre Sehzentrum im Gehirn liegt weit hinten im Hinterhauptlappen. Dort werden die Informationen, die über den Sehnerv vom Auge kommen, aufgearbeitet und dann an die sekundären Sehzentren weitergeleitet.

Diese sorgen dafür, dass aus dem einfachen Bild ein dreidimensionaler Eindruck mit erkennbar unterschiedlichen Strukturen wird. Hier werden Gesichter als solche erkannt und dann auf eine Weise weiter bearbeitet, die kleinste Unterschiede identifizierbar macht und Gesichter auch aus anderen Winkeln und bei unterschiedlicher Beleuchtung wiedererkennen lässt. In diesem Areal muss die Fähigkeit der Super Recognizer verborgen liegen.

Wissenschaftler vermuten, dass es sich um eine genetische Veranlagung handelt. Wie genau, wissen die Forscher noch nicht. Bisherige Versuche jedenfalls, Probanden ein besseres Personengedächtnis anzutrainieren, verliefen wenig erfolgreich. Die Gabe scheint nur wenigen vorbehalten zu sein. Und diese Minderheit arbeitet sehr effektiv: Nach Angaben des Kriminalkommissars Mick Neville von der Metropolitan Police hat sich die Zahl der Identifizierungen unter seiner Super-Recognizer-Einheit seit April 2013 verdreifacht. Es kann also helfen, Super-Recognizer gezielt bei der Verbrechensbekämpfung einzusetzen.

Der britische Psychologe Josh Davis arbeitet eng mit der Londoner Super-Recognizer-Einheit zusammen. Er weiß, wie lange es dauern kann, bis sich Menschen ihres Talents bewusst werden. „Viele merken es jahrelang nicht, erleben aber immer wieder Aha-Momente.“ Nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung besäßen diese Gabe, schätzt Davis – und bestätigt damit Russells Zahl.

Auch Eliot Porritt wusste lange Zeit nichts von seinem Talent. Erst durch Tests, die Josh Davis bei der Metropolitan Police mit ihm machte, darf er sich jetzt offiziell Super Recognizer nennen. Ellitt Porritt grinst, wenn er selbstironisch von seinem Talent erzählt. Die anderen Kollegen von Scotland Yard machten sich gerne mal lustig über seine Abteilung, sagt er. „Ah, die Superhelden-Bande kommt“, sagen sie dann.

Porritt ist wohl nicht allein in seiner Familie. Erst kürzlich habe seine Schwester ein paar Super-Recognizer-Tests im Internet gemacht. Und hätte verdammt gut abgeschnitten. Ihm gefällt das nicht. „Wenn sich herausstellen sollte, dass sie tatsächlich ein Super-Recognizerin ist, bin ich deprimiert. Bisher war sie die Clevere und ich der Coole. Ich fand diese Aufteilung immer fair.“ Dass das Talent sich vererbt, hält Wissenschaftlerin Anna Bobak für durchaus möglich. Experten gehen davon aus, dass die Fähigkeit bei Mann und Frau ähnlich häufig vorkommt.

Noch ein anderer Faktor könnte eine Rolle spielen: Eine Studie der Psychologin Sarah Bate von der University of Exeter kam zu dem Schluss, dass Menschen mit hoher Empathiefähigkeit Gesichter leichter wiedererkennen als andere Probanden. Bate hatte Gesichtserkennungstests mit 160 Personen durchgeführt. Andere Forscher untersuchten den Zusammenhang zwischen Autismus und Gesichtsmerkfähigkeiten. Bislang fehlen eindeutige Ergebnisse.

Das Potential der Super Recognizer scheinen Wissenschaftler und Sicherheitskräfte erst allmählich zu begreifen. Mick Neville, Kriminalkommissar bei Scotland Yard, fasst zusammen: „Wir wissen noch zu wenig über Super Recognizer. Da draußen müssen noch viel mehr sein, von denen wir nicht wissen, weil ihnen ihre Fähigkeit selbst nicht bewusst ist.“ Aus seiner Sicht ist das ein verschwendetes Potenzial. Seine Experten setzt er gezielt beim Grenzschutz und in der Forensik ein. Bewusst stellt er sie auch anderen Ländern zur Verfügung, um zu zeigen, welche Vorteile es haben kann, bei der Personalauswahl auf diese Fähigkeit zu achten.

Auch nach den Anschlägen auf den Brüsseler Flughafen in Belgien fehlten die Super-Recognizer. Da in ganz Belgien tagelang die höchste Alarmstufe galt, kontrollierten Sicherheitskräfte passierende Wagen an den Grenzübergängen. Dabei hatten die Beamten nach Angaben eines ARD-Fernsehbeitrags gerade mal drei Sekunden, um die Gesichter der Fahrer zu scannen und zu entscheiden, ob sie diese herauswinken sollten oder nicht. Hier wären die Profis der Super-Recognizer-Einheit aus London eine große Hilfe gewesen. Eingesetzt wurden sie jedoch nicht, obwohl Scotland Yard es angeboten hatte.

Doch braucht man Super Recognizer überhaupt in Zeiten immer besser funktionierender Gesichts-Software? Immerhin macht die Technik dramatische Fortschritte: Erst kürzlich geriet die russische Gesichtserkennungs-Software FindFace in die Schlagzeilen, weil die App angeblich nur ein Foto von einem Menschen auf der Straße braucht, um ihn auf dem russischen Facebook-Pendant VK unter Millionen von Nutzern wiederzufinden. Der Algorithmus nennt sich Face N – er ist in der Lage, Strukturen zu analysieren, die gleichbleibend sind, unabhängig davon, ob jemand einen langen oder kürzeren Pony trägt, geschminkt ist oder nicht.

Auch Facebook hat mit Facebook Moments einen Dienst zum Teilen von Bildern entwickelt, der diese sofort nach Zeitpunkt und Ort sortiert und Personen wiedererkennt. Und selbstverständlich dringt auch Google auf den Markt. Doch auch wenn die Gesichts-Software Fortschritte macht, arbeitet sie meist dann besonders gut, wenn die Bilder aus einer idealen Perspektive aufgenommen wurden. Frontal, mit neutralem Gesichtsausdruck. Die Super-Recognizer erkennen jedoch auch Menschen auf den krisseligen Schwarz-Weiß-Bildern der Überwachungskameras – auch aus ungünstigen Perspektiven.

Als es im Jahr 2011 in London zu Aufständen kam, gelang es der Gesichtserkennungs-Software von Scotland Yard unter 4000 Verdächtigen, die von Überwachungskameras aufgenommen wurden, gerade mal eine Person zu identifizieren. Porritts Kollege Gary Collins hingegen erkannte 180 Menschen. Mensch schlägt Maschine. In Zukunft allerdings könnte sich das schlagartig ändern.

Gary Collins wird dann von seinen Freunden jedenfalls weiterhin das Orakel genannt werden. Die „New York Times“ hat ihm ein eigenes Porträt gewidmet. Immer wieder streicht Collins durch die Straßen bestimmter berüchtigter Londoner Stadtteile, um zu schauen, ob er Verdächtige der Fahndungsfotos wiedererkennt. In Londons Gefängnissen kennen die Insassen seinen Namen. Sein Gesicht allerdings nicht.

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