Bis zu 12.000 Tote in Galveston So veränderte ein Hurrikan 1900 die USA

Vor 117 Jahren vernichtet ein Monstersturm die texanische Boomtown Galveston. Der Tag markiert den Aufbruch des Landes zu Katastrophenschutz und Evakuierungsplänen.

 9. September 1900: Am Tag danach liegt das texanische Galveston in Trümmern.

9. September 1900: Am Tag danach liegt das texanische Galveston in Trümmern.

Foto: picture alliance / CPA Media Co.

Es sind die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts. Die texanische Stadt Indianola an der Matagorda Bay ist auf dem besten Weg, Galveston als Hafenstadt zu übertrumpfen. Es geht um die wirtschaftliche Vormachtstellung im Süden Texas’, und es ist die Zeit, als die drahtlose Telegrafie nur kleinräumig und im Experiment funktioniert. Wenn sich in der Welt ohne Telegrafenmasten ein fürchterlicher Sturm zusammenbraut, sind Schiffskapitäne isolierte Informationsträger. Erst wenn sie lebend einen Hafen erreichen, kann die Nachricht ihren Weg per Draht in die Welt nehmen.

So kommen Hurrikans nicht selten ohne Vorwarnung über die Menschen. Wie 1875, als Indianola weitgehend verwüstet wird. Die Überlebenden bauen Stadt und Hafen wieder auf – und konkurrieren weiter mit Galveston. Elf Jahre später trifft es Indianola wieder. Ein tropischer Wirbelsturm zerstört das Wiederaufgebaute, und die Bürger kapitulieren.

Indianola bleibt am Erdboden. Ein Schicksal, das die Menschen in Galveston nicht gleichgültig lässt, schließlich hätte man viel zu verlieren. Um 1895 ist die Stadt der drittgrößte Hafen Amerikas, nirgendwo wird mehr Baumwolle umgeschlagen. Ein prosperierendes Städtchen mit Hotels, Konzertsälen, Straßenbahn und elektrischem Licht.

Der Sand schützender Dünen steckt in Bauprojekten

Von den 38.000 Einwohnern sind rund ein Drittel deutsche Einwanderer. Man ist zu dieser Zeit das wichtigste texanische Handelszentrum, viel wichtiger als Houston, und das möchte man bleiben, weshalb einige Bürger nun – nach der Katastrophe in Indianola – einen Schutzwall gegen einen möglichen starken Hurrikan und seine Flutwelle fordern. Man diskutiert, wägt ab.

Ältere Einwohner berichten, dass Galveston – auf einer der Küste vorgelagerten schmalen Insel gelegen – seit 1839, Gründungsjahr der Stadt, viele Wirbelstürme ohne größere Schäden überstanden habe. Die Mehrheit überzeugt das – und stimmt gegen Damm und Investition. Die Wortführer übersehen indes, dass die schützenden Sanddünen kleiner geworden sind – Sand, den man für weitere Bauprojekte im Zuge der wirtschaftlichen Expansion verbraucht hat.

Am 3. September 1900 feiert die Stadt den „Labor Day“ mit einer Parade. Die „Galveston News“ berichten von Plänen zum Ausbau des Hafens, um die Vormachtstellung zu halten. Am 4. September telegrafiert die zentrale US-Wetterbehörde in Washington D.C. nach Galveston, dass ein tropischer Sturm über Kuba hinwegziehe.

Einen Tag später Entwarnung: Die Meteorologen sehen die Gefahr nordwärts vorbeiwandern. Man kann Anfang des 20. Jahrhunderts nur berichten, was man sieht und hat nicht die große Satelliten-Perspektive. Kubas Meteorologen sehen und melden etwas anderes: Dass sich ein Hurrikan auf die Küste von Texas zubewege.

Die kleine Zeitungsmeldung treibt niemanden zur Flucht

Am 6. September 1900 ziehen stürmische Winde über Key West in Florida. Das Nationale US-Wetteramt fühlt sich in seiner Prognose vom Vortag ausdrücklich bestätigt, gleichwohl schwelt im Hintergrund ein Kompetenz-Methodikstreit zwischen amerikanischen und kubanischen Wetter-Vorhersagern. Was die Amerikaner nicht wissen können: Über Florida sehen sie nur die stürmischen Ausläufer eines in Richtung Golf von Mexiko ziehenden Hurrikans.

Dass die Kubaner richtig liegen, spüren am 7. September 1900 die Kapitäne der „Louisiana“ und der „Pensacola“, die im aufgeheizten Golf von Mexiko mitten im Hurrikan gegen ihren Untergang kämpfen. Doch sie haben keine Möglichkeit, die texanische Küste oder den Nationalen Wetterdienst zu warnen. Letzterer hat sich inzwischen korrigiert, seit an der Westküste Floridas erste Schiffe vermisst werden.

Am 8. September 1900 erscheint morgens in der „Galveston News“ auf Seite 10 eine kleine Meldung: „Die Mitarbeiter des Wetteramtes erwarten keinerlei gefährliche Störung, allerdings können sie noch nicht beurteilen, welches Ausmaß der Sturm haben oder wie er sich entwickeln wird, wenn er Texas erreicht.“ Das ist keine Nachricht, die Bürger flüchten lässt.

Während Familienväter ahnungslos in der City lunchen, versuchen ihre Frauen und Kinder, aus ihren strandnahen Wohnhäusern zu flüchten. Vergeblich: schon alles unter Wasser. Der letzte Zug, der das Festland erreicht, hat Galveston um 8.45 Uhr über die Brücke verlassen. Mittags sind die Strandhäuser zertrümmert, und Issac Cline, Chef des örtlichen Wetterbüros, entscheidet eigenmächtig, eine Hurrikan-Warnung herauszugeben. Um 14.30 Uhr telegrafiert Cline in die Zentrale, dass fast die ganze Stadt überflutet sei. Danach brechen die Telegrafenmasten.

Das "New York des Südens" verliert 12.000 Einwohner

Zwischen 17.15 und 20 Uhr erreicht das Hurrikanzentrum Galveston. Bei einer Windgeschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde reißt der Windmesser von Clines Dach. Böen mit Tempo 300, so die Rekonstruktion späterer Forschungen, rasen durch die Stadt. Ein so beschleunigtes Holzbrett durchschlägt die Eisenplatte eines englischen Dampfers, fliegende Schindeln enthaupten umherirrende Menschen, und als die Flutwelle mit einem Trümmerwall zurück zum Meer schwappt, „verschlingt sie alle Gebäude und alles Leben“, schreibt Erik Larson in seinem Tatsachenroman „Isaacs Sturm“ (Fischer Verlag), dessen Held der örtliche Wetterwächter ist. Denn Cline hat überlebt, später alles Erlebte aufgeschrieben und das Geschriebene der Nachwelt übergeben.

Bis zu 12.000 Bürger Galvestons, das bis zum 7. September 1900 noch als „New York des Südens“ gilt, kommen ums Leben. Die Stadt erholt sich von diesem Schlag nicht mehr. Die großen Handelsströme ziehen fortan an ihr vorbei, Houston wird Texas’ Handelszentrum und Galveston sein Strandbad.

In Amerikas Naturkatastrophen-Geschichte nimmt der Galveston-Hurrikan bis heute den Platz der schwersten Naturkatastrophe ein. Nie starben mehr Amerikaner durch einen Hurrikan als in Galveston. Als 1915 wieder ein Wirbelsturm die Stadt heimsucht, sterben zwar 215 Bürger, aber der neue Schutzwall schützt Galveston.

Satellitengestützte Dauerbeobachtung

Was haben die USA aus Galveston gelernt? Vorwarnungs- und Evakuierungssysteme sind, zumindest im reichen Florida, immer weiter perfektioniert worden. Das lässt sich an den Todes-Statistiken nach jedem Wirbelsturm ablesen. In den USA fallen sie regelmäßig niedriger aus als in den armen Karibikstaaten. Wenig überraschend: Genau umgekehrt verhält es sich bei den versicherten Schäden.

Der Highway der Superstürme zwischen Westafrika und der Karibik steht seit den 1970er Jahren unter satellitengestützter Dauerbeobachtung. Mit komplexen Differentialgleichungen und irre schnellen Höchstleistungsrechnern wird versucht, wahrscheinliche und unwahrscheinliche Zugbahnen eines Hurrikans zu ermitteln, was unmittelbare Folgen auf das Evakuierungsprogramm hat.

Doch es bleibt, so spiegeln es die Rechenkünste vergangener Jahrzehnte, ein Roulette-Spiel. Beispiel „Charly“ (2004): Nach der 11-Uhr-Prognose sollte sein Auge am 13. August um 15.30 Uhr gegen Floridas Küste branden. Doch um 15.30 Uhr geht er 110 Kilometer südlicher als vorhergesagt an Land. So war es auch bei "Irma". Miami hatte sich verbarrikadiert, Millionen sind geflüchtet, aber kurz vor dem Landgang steuerte „Irma“ um.

Der Ernstfall muss nicht immer eintreten

Die Sirenen heulten nun weiter westlich: Die Bürgermeister von Naples, Fort Myers, St. Petersburg und Tampa sind verzweifelt. „Irma“ sollte ihre Städte mit voller Wucht treffen. „Worstcase“, sagt Randall Henderson, Bürgermeister von Fort Myers. Nichts hat sich also im Kern verändert: Das „Wetter von morgen“ ist berechenbarer als die Hurrikan-Achterbahn für die nächsten fünf Stunden.

Ein schweres, weil riskantes und vor allem folgenreiches Geschäft für die amtlichen Wirbelsturm-Aufseher. Drücken sie auf den roten Knopf, weiß zwar jeder in Florida, was zu tun ist, aber der Ernstfall muss nicht eintreten. Immerhin löst eine Evakuierung Kosten von rund eine Million Dollar pro Küstenmeile aus. „Mein Albtraum ist, dass wir Menschen evakuieren, die dann im Stau stecken und vom Hurrikan überrollt werden“, sagte einmal Miles Lawrence vom Hurrikan-Warnzentrum in Miami. Er meinte: im Stau ertrinken. Es ist eine alte Hurrikan-Regel: Der Wind macht die Angst, aber das Wasser bringt Tod und Schaden.

105 Jahre nach Galveston trifft der Kategorie-Fünf-Sturm „Katrina“ nicht auf das reiche und hurrikanbewehrte Florida, sondern auf das vernachlässigte New Orleans in Louisiana. Die Warnungen des örtlichen Army Corps of Engineers vor maroden Deichen verpufften in Washington, das kurz zuvor 71 Millionen Dollar für Louisianas Deiche gestrichen hatte. Dazu Amerikas ungelöste Probleme: Dass im sogenannten reichsten Land der Welt Menschen zu arm zum Flüchten sind, steht in keinem Katastrophenplan. Jeder hat es damals gesehen: Die Opfer, tote wie überlebende, waren meist arm und schwarz. Plünderungen, Chaos, Schüsse, alle sozialen Dämme brachen.

Lange verlässliche Daten-Zeitreihen zu Hurrikanen fehlen

Während zuvor in Thailand (2004) nach dem verheerenden Tsunami die zivile Gesellschaft zusammenrückte, brach sie rund um New Orleans nach dem Hurrikan auseinander. „Katrina war ein Schlag für das Selbstverständnis der Nation“, schrieb Paul Krugman in der „New York Times“. Einmal, weil die Mondfahrer-Nation erfuhr, wie limitiert menschliche Technik und Innovation gegenüber Wind und Wasser sind, zum anderen, weil Nation und Börse sich am Tag danach zunächst mehr für Öl- und Benzinpreise interessieren als für Hilfe und Rettung von Millionen.

Ein Hurrikan, was ihn auslöst und stark macht und welche globalen Rahmenbedingungen ihn begünstigen, ist nicht nur in den USA nicht abschließend erforscht. Die Satellitenbeobachtung begann erst in den 1970er Jahren, und die beiden Weltkriege haben große Datenlücken hinterlassen. Viele Kennwerte zu Wirbelstürmen sind zudem geschätzt, Datenreihen über lange Zeit – anders als bei der mittleren Erdtemperatur – mit Vorsicht zu genießen. Und die globale Erwärmung ist als weitere Variable hinzugekommen (siehe „Macht und Ohnmacht“). Unstrittig: Die Ernährungsbasis, Meeresflächen wärmer als 26,5 Grad, expandieren nach Norden. Deshalb schafften es 2011 und 2012 auch zwei Wirbelstürme bis nach New York.

Längere Vorwarnzeit, perfektionierte Evakuierungspläne, ein durch Erfahrungen aus der Vergangenheit geschärftes Bewusstsein: Trotzdem bleibt ein Restrisiko. Auch das Gefühl der Ohnmacht. Es ging Ende bei der Evakuierung Floridas nicht um 38.000 Menschen (Galveston 1900), sondern um sechs Millionen. Gouverneur Rick Scott war 24 Stunden vor der unabwendbaren Katastrophe vor dem Mikrofon gezeichnet von der übergroßen Verantwortung – wie sein Kollege Lawrence im Warnzentrum in Miami. Und so ohnmächtig wie einst Issac Cline vor 117 Jahren in Galveston.

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