Helden, Horden, Menschenwelle Nach dem Weltbevölkerungstag: Wir sind zu viele

Die alte Warnung bleibt die neue: Wir sind zu viele. Weltweit tickt ein unvorstellbares Wachstum mit ungewissen Folgen. Noch unvorstellbarer: Fast wäre unsere Spezies ausgelöscht worden.

 Mädchen im Niger: In dem Land südlich der Sahelzone bringt eine Frau durchschnittlich sieben Kinder zur Welt. Afrika muss, so der Unicef-Report „Generation 2030/Africa“, in 33 Jahren zwei Milliarden Menschen ernähren (heute 1,2 Milliarden). Die Hälfte davon wird unter 18 Jahren sein. Schon heute sind 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos.

Mädchen im Niger: In dem Land südlich der Sahelzone bringt eine Frau durchschnittlich sieben Kinder zur Welt. Afrika muss, so der Unicef-Report „Generation 2030/Africa“, in 33 Jahren zwei Milliarden Menschen ernähren (heute 1,2 Milliarden). Die Hälfte davon wird unter 18 Jahren sein. Schon heute sind 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos.

Foto: AFP

Am Anfang, logisch, haben die ersten aufrecht gehenden Frauen, von denen eine die „mitochondriale Eva“ war, und Männer miteinander geschlafen. Wo? Vermutlich in einer kuscheligen Höhle, vielleicht aber auch im Schatten einer Schirmakazie in der Savanne – irgendwo in der „Wiege der Menschheit“ in Ostafrika.

Wann? Ob unsere direkten Vorfahren nun vor 200.000 Jahren ums Überleben kämpften oder schon 100.000 Jahre früher, so jüngste Erkenntnisse, spielt für das Bevölkerungswachstum keine Rolle, eher für Filmanimationen, die uns das Unvorstellbare in Raum, Zeit und Zahl begreifbar machen – 200.000 Jahre in 60 Sekunden Echtzeit. Lange, sehr lange passiert nichts, weil etwa gleich viel gestorben wie geboren wurde.

Dann beginnt in den letzten Sekunden das Stakkato, jeder flackernde Stern steht für eine Million mehr Menschen. Am Ende das „flammende Inferno“, großer Wow-Effekt beim sprachlosen Zuschauer. Tatsächlich, es handelt sich um eine Bevölkerungsexplosion.

Dass auch das Gegenteil, die Beinahe-Auslöschung unserer Art vor 50.000 bis 100.000 Jahren, eine Option war, müssen wir seit 2008 für möglich halten. In einem globalen Erbgut-Analyse-Projekt, dessen Ergebnisse im „American Journal of Human Genetics“ veröffentlicht wurden, berichteten Forscher, dass die genetische Vielfalt der Menschheit sehr gering sei – so gering, dass die heutigen 7,5 Milliarden Lebenden alle von einer kleinen Gruppe aus 1000 bis 10.000 Individuen abstammen.

Ein Heldendrama in unserer DNA

Da aber vor etwa 75.000 Jahren schon mehr Menschen weltweit gelebt haben müssen als heute in den Bonner Stadtteilen Röttgen und Ückesdorf (zusammen rund 7500 Einwohner), kann nur eine Naturkatastrophe den „genetischen Flaschenhals“ verursacht haben. Aber was war das?

Für die globale DNA-Analyse fand Spencer Wells von der National Geographic Society (USA) markige Worte: „Die Studie demonstriert die Kraft der Genetik, Schlüsselereignisse der menschlichen Geschichte zu offenbaren. Ein wahres Heldendrama, das da in unserer DNA geschrieben steht.“

Nach einer umstrittenen, aber durch viele Indizien gestützten These des US-Anthropologen Stanley Ambrose erklärt der größte Vulkanausbruch der letzten zwei Millionen Jahre, warum die Menschheit einst am seidenen Faden hing – als der Toba auf Sumatra vor etwa 75.000 Jahren so heftig eruptierte, dass er auf eine Eiszeit noch eine staubgeschwängerte Lufthülle setzte. Diese 1000 kältesten Jahre der Würmeiszeit ließ die Menschheit fast aussterben. Nur 1000 bis 10.000 überlebten die Kälte-Tortur, die Wells „Heldendrama“ nennt.

Als sich die klimatische Lage wieder entspannte, vermehrte sich der Mensch und soll vor rund 40.000 Jahren, so die DNA-Studie, in Horden in alle Erdwinkel aufgebrochen sein. Die Weltbevölkerung wuchs jedoch kaum. Vor 12.500 Jahren, als die Altsteinzeit endete, sollen es fünf Millionen gewesen sein. Der Übergang der Jäger- und Sammlerkultur zu Ackerbau und Viehzucht setzt erste Wachstumsimpulse.

Bevölkerungswachstum im Schneckentempo

Für die Zeit um Christi Geburt schätzen Paläo-Demografen rund 250 Millionen lebende Menschen – die jedoch auf den „Schultern“ von rund 47 Milliarden (!) stehen, die in den Jahrtausenden zuvor geboren (Lebenserwartung etwa 25 Jahre) und gestorben waren. Das hat einmal der Kanadier Nathan Keyfitz, Begründer der mathematischen Demografie, mit seiner „Weltbevölkerungsformel“ berechnet.

Das Bevölkerungswachstum blieb aber weiter eine Schnecke. Um 1800 war die erste Milliarde erreicht, die industrielle Revolution im Werden und der englische Landpfarrer Thomas Malthus der erste große Skeptiker, denn die Bevölkerungen Englands und Wales' explodierten damals stärker als die von Kenia heute. In seinem legendären Essay (1798) glaubte er, „dass die Kraft der Bevölkerung unendlich viel größer ist als die Kraft der Erde, Unterhalt für den Menschen hervorzubringen“.

Doch der prophezeite Hunger der Massen blieb aus. Um 1900 hatte die Bevölkerung Englands sich zwar vervierfacht, aber die Produktivität per Dampfkraft vervierzehnfacht. Mit den Exporterlösen ließen sich Lebensmittel importieren.

Auch die Kraft des Wissens hatte Malthus unterschätzt. Mendel entschlüsselte die Erbgesetze, Justus von Liebig brachte den Dünger in die Welt, dazu der medizinische Fortschritt, mehr Hygiene, mehr fossile Brennstoffe. 1930 erreichte die Menschheit die zweite Milliarde, 1960 die dritte, 1999 die sechste, aber die Nahrungsexplosion überflügelte die der Bevölkerung und gab auf die Frage „Wie viele Menschen trägt die Erde?“ neue Antworten.

11 Milliarden sind nicht zu verhindern

Von 1950 bis 1984 war der Kunstdünger-Einsatz um 900 Prozent gestiegen und hatte eine wundersame Erntevermehrung bewirkt. Da konnte der Mensch es sich leisten, Korn und Hülsenfrüchte durch die Kreatur zu schicken, um später Fleisch „zu ernten“. Eine, wie wir heute wissen, verhängnisvolle Entwicklung.

1984 war das Wendejahr: Nie mehr sollten die Bauern der Erde später mehr Kilogramm Getreide pro Mensch abringen. Mutter Erde begann zu schwächeln. Eine Kehrseite des Dopings: Bodenerosion, Luft- und Klimaschadstoffe, erschöpfte Grundwasserleiter, nachlassende Bodenfruchtbarkeit. Nun rückten die endlichen Ressourcen des Planeten in den Fokus und die Lehre vom wirtschaftlichen Wachstum in die Kritik.

Stanford-Professor Paul Ehrlich hatte sich schon 1968 eingemischt und das Buch „The Population Bomb“ geschrieben. Darin warnt er, wie einst Malthus, vor einer Katastrophe. „Die DNA ist stärker als das BSP“ (Bruttosozialprodukt), der „Fortpflanzungstrieb“ sei eine evolutionär begründete Bürde des Menschen, die sich „hemmungslos vermehren“. Ehrlich empfahl, notfalls Sterilisationsmittel ins Trinkwasser zu mischen. Seine Thesen waren so umstritten wie später Chinas Ein-Kind-Politik.

Inzwischen sind wir 7,5 Milliarden und 11 Milliarden nicht mehr zu verhindern. Wie groß muss die Ernte künftig sein? Auf einem schrumpfenden Weltacker mit unberechenbarem Klimawandel? Rettet uns eine zweite Grüne Revolution mit viel Gentechnik? Oder die Megacity mit Gärten auf den Dächern? Bis wohin rollt Afrikas Menschenwelle?

Die Entlastungsventile sind verstopft

Auch auf dem Problem-Kontinent wird irgendwann einmal mehr gestorben als geboren werden, wie 1972 das erste Mal in der alten Bundesrepublik, als sich in der „Konkurrenz der Genüsse“ der Zweitfernseher gegenüber dem Zweitkind durchsetzte.

Doch dieser Tag liegt für Afrika weit hinter dem Horizont. Als die industrielle Revolution Europas Bevölkerungsdichte hochtrieb, wanderten viele aus. Doch heute sind diese Entlastungsventile in alle Richtungen verstopft. Zudem ging es damals um Millionen, heute um Milliarden.

Bleibt noch die Schein-Entwarnung, wenn es in den Nachrichten heißt, „das Bevölkerungswachstum hat sich von 1,4 auf 1,2 Prozent abgeschwächt“. 1,4 Prozent bedeuten bei 6,2 Milliarden pro Jahr 86,8 Millionen Menschen mehr, bei 1,2 Prozent von 7,5 Milliarden (wie heute) 90 Millionen mehr. Auf die Größe der Ausgangsbevölkerung kommt es an. So suggeriert ein Mischmasch aus Sprache und Prozenten, dass wir weniger würden, obwohl wir immer mehr werden.

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