Der Alfterer Entwicklungspsychologe Sebastian Suggate setzt sich für die Schreibschrift ein Geistige Kraft aus Stift und Füller

ALFTER · Finnland hat es vorgemacht. Kanada, einige US-Bundesstaaten, die Schweiz und andere Länder könnten folgen: Die Schreibschrift als Bestandteil des Grundschul-Lehrplans muss zunehmend zu Gunsten anderer Inhalte weichen, Platz machen für Tippen und Tablet-Bedienung, damit die Kinder auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet sind.

 Nostalgischer Zauber der Handschrift: Federhalter und Tinte haben heutzutage fast überall der Tastatur weichen müssen.

Nostalgischer Zauber der Handschrift: Federhalter und Tinte haben heutzutage fast überall der Tastatur weichen müssen.

Foto: Thomas Kölsch

Das hat nicht nur diverse Kulturpessimisten auf den Plan gerufen: Entwicklungspsychologen wie Professor Sebastian Suggate von der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter halten es für einen eklatanten Erziehungsfehler. Keine andere ihm bekannte Technik könne sowohl die kognitiven als auch die motorischen Fähigkeiten in jungen Jahren derart effektiv fördern wie der geübte Umgang mit dem Stift, sagt der Experte.

"Es gibt Untersuchungen unter anderem aus Regensburg, die belegen, dass die Schreibschrift für das Lernen viel effektiver ist als etwa Tippen oder sogar das Schreiben in Blockbuchstaben", erklärt Suggate. "Die fließenden Bewegungen regen Kreativität an, fördern das Verständnis von Texten und sorgen dafür, dass man sich das Geschriebene viel besser merken kann. Das dürften Sie auch bei sich selbst feststellen: Wenn Sie sich Notizen auf einem Blatt Papier machen, können Sie sich in der Regel an diese viel besser erinnern als wenn Sie sie am PC eingegeben haben."

Grundsätzlich gelte: Je direkter, desto besser. "Mit der Hand zu schreiben ist anstrengender als mit der Tastatur zu tippen, erfordert also eine höhere Konzentration. Die macht sich auch lerntechnisch bemerkbar", erklärt Suggate. "Doch diese Verbindung von Händen und Hirn entsteht primär in der Kindheit. Nicht umsonst gilt in der Entwicklung des Menschen die Reihenfolge Bewegen - Sprechen - Denken." Diese Entwicklung solle unter anderem durch das Erlernen der Schreibschrift gefördert werden, sagt der Psychologe.

Den Weg, den Finnland jetzt mit deren Abschaffung geht, hält er dagegen "für äußerst fragwürdig. Immerhin können Sie noch mit 20 Jahren Tippen lernen, ohne dabei Defizite festzustellen. Anders herum funktioniert das dagegen nicht so gut." Suggate ist selbst von diesem Phänomen betroffen: In seiner Heimat Neuseeland hat man die Schreibschrift in der Schule schon vor Jahrzenten abgeschafft. Der bequemere Weg. Aber der richtige? Suggate ist sich nicht sicher. "Wenn Sie die Hausarbeiten von neuseeländischen und deutschen Studenten vergleichen, werden Sie hinsichtlich der Kohärenz und des Wortschatzes teils beträchtliche Unterschiede feststellen."

Natürlich ließen sich diese Unterschiede nicht allein auf die Schreibschrift zurückführen: "Da kommen noch viele andere Faktoren zusammen - und ich selbst habe es ja auch an eine deutsche Hochschule geschafft", bekennt er lachend. "Dennoch finde ich die Diskrepanz bemerkenswert und bin mir sicher, dass da ein Zusammenhang besteht." Zugleich betont der Bildungswissenschaftler, dass es derzeit an grundlegenden, umfassenden Forschungen zu diesem Thema mangele. "Wir müssten viel genauer untersuchen, welche Zusammenhänge zwischen Bewegung und Verständnis bestehen und was neue Technologien dabei für einen Stellenwert haben."

Thema künftiger Untersuchungen könne zum Beispiel die Frage sein, inwieweit Orthografie und Wortschatz von Computernutzern durch die automatische Rechtschreibprüfung gängiger Text- und Mailprogramme beeinflusst werden. Eine zweite Frage: "Was passiert, wenn sich in einigen Jahren eine Spracheingabe durchsetzt? Was bedeutet das nicht nur für unsere Kommunikationsfähigkeit, sondern auch für unser Lernen?"

Sebastian Suggate kann daher in Deutschland bereits angedachte Bestrebungen, es den Finnen gleichzutun, nicht wirklich nachvollziehen. "Es mag sein, dass es Möglichkeiten gibt, den Verlust der Schreibschrift zu kompensieren, allerdings wäre ich da sehr vorsichtig. Unbestritten ist, dass ein kontinuierlicher Umgang mit unserer Umwelt das Denken anregt. Ein aktiver Umgang mit Sprache gehört dazu. Wenn Sie schreiben, können sie sowohl den Text als auch dadurch die Welt erforschen und verleihen den Worten, die Sie benutzen, einen besonderen Wert. Meiner Meinung nach ist das etwas, was man nicht ohne weiteres aufgeben sollte."

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