Das Zeitgefühl der Menschheit Die ewige Crux mit der Zeit

Bonn · Der große Trend der vergangenen Jahrzehnte - "Sorry, keine Zeit" - hat sich durch die digitale Revolution und die ständige Erreichbarkeit spürbar verstärkt. Dazu sind neue Fragen entstanden, etwa die: Leben wir länger und denken kürzer?

Die rasende Gesellschaft lässt sich während der Rushhour in Tokio beobachten: Weltweit bewegen die Menschen sich nicht nur schneller, sondern kommunizieren auch im elektronischen Sauseschritt. Von Mensch zu Mensch heißt es indes: "Sorry, keine Zeit." Alle Zeitspargeräte haben auf wundersame Weise das Gegenteil bewirkt.

Die rasende Gesellschaft lässt sich während der Rushhour in Tokio beobachten: Weltweit bewegen die Menschen sich nicht nur schneller, sondern kommunizieren auch im elektronischen Sauseschritt. Von Mensch zu Mensch heißt es indes: "Sorry, keine Zeit." Alle Zeitspargeräte haben auf wundersame Weise das Gegenteil bewirkt.

Foto: dpa

Ein Zwölfjähriger sagt über sein Zeiterleben: "Im Computer drinzustecken, ist wie Einschlafen und denken, man hätte nur eine Viertelstunde geschlafen, aber in Wirklichkeit hat man die ganze Nacht geschlafen. Man versucht herauszufinden, wo die Zeit geblieben ist. Sie ist im Computer geblieben." Das war vor fast 30 Jahren, als der US-Soziologe Jeremy Rifkin aus einer Studie über Computer-Kids berichtet und als die Gesellschaft solche in Computer Vernarrte als "Nerds" - eine Bezeichnung zwischen Computerfreak und Schwachkopf - abtat. Damals faszinierten erste Heimcomputer namens Atari ST oder Commodore 64 mit winziger Leistung, aber schon sie erlaubten interaktive Spiele und vertrieben bei Jugendlichen, was sie am meisten hassen: Langeweile.

Heute sind die Dinge zwischen Smartphone und Playstation 3 weit fortgeschritten. Die Wundergeräte können unvollstellbar viel. Wissenschaftler illustrieren das gerne anschaulich: Ein Smartphone aus der Jetztzeit sei so leistungsfähig wie einst alle kistengroßen Computer zusammen, die bei den Apollo-Mondmissionen um 1970 mitflogen. Gepaart mit Socialmedia-Diensten und Animationen gibt es heute nichts, was die Zeit - gefühlt - schneller vergehen lässt. Werden die Kommunikationsgeräte der Neuzeit, die immer auch Spielzeuge geblieben sind, eingeschaltet, wird die Langeweile ausgeschaltet. 30 Jahre später, im Jahr 2015, twittert Marc Andreessen, gewissermaßen ein Mann der ersten Internetstunde und als Investor bei Facebook und Twitter reich geworden: "Von “Nur Nerds brauchen das Internet„ bis “Alle starren den ganzen Tag lang auf ihre Smartphones„ in nur 20 Jahren. Nicht schlecht."

Die tragbare Kommunikationszentrale für jedermann markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die aus gemächlichen Gesellschaften rasende Ungeheuer machten und Menschen das "Hamsterrad" zuwiesen. Doch neu ist das nicht. Immer wieder führten seit dem 18. Jahrhundert neue Technologien zu periodischen Wellen der Beschleunigung. Ob Eisenbahn, Telegraf oder Uhr: Der Raum schrumpfte, während die erlebte Zeit zu einer mysteriösen Erscheinung wurde.

Arbeitsalltag: Hast und Hetze verstärken sich

"Was also ist die Zeit?", fragte der Philosoph Augustinus zwischen Antike und Mittelalter: "Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht." Der moderne Mensch kann auch rund 1600 Jahre später und 100 Jahre nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie keine bessere Antwort geben. Er fühlt sich gehetzt und stammelt seit Jahrzehnten immer häufiger: "Sorry, keine Zeit". Einer sagt es zum anderen und der zum nächsten. Es scheint, als habe sich der ewige Trend zum beschleunigten Zeitgefühl immer weiter verstärkt.

Wann hat das begonnen? Jedenfalls nicht mit der Dampfmaschine, sondern mit den Uhren. Erst die für den Kirchturm, dann die für den Bahnhof mit dem ruckelnden Zeiger, später die mit der tickenden Präzision des Quarzes am Handgelenk. Dazu Fließbänder und Arbeitsteilung. So wurde die Zeit zerhackt, portioniert, zugewiesen. Zunächst in der Produktion, wo alles durchgetaktet wurde. Karl Marx hatte es ja vorhergesagt: "Alles läuft auf eine Ökonomie der Zeit hinaus."

Der große Trend provozierte zugleich das große Grübeln, weil der Mensch spürte, dass sich die Zeit auch an Nicht-Arbeitstagen zusehends verflüchtigte. Und das lange bevor die digitale Revolution den Planeten eroberte. Umgeben von allerlei Zeitspargeräten der Moderne, geriet Homo sapiens in die Zeitfalle. Alles führte zum Gegenteil: noch mehr Stress und Hektik. Und das, obwohl viele kleine Sparassistenten noch mehr "Zeit zur freien Verfügung" spendierten, etwa Aufzüge, Klettverschlüsse, Thermomix, Fünf-Minuten-Terrine, Teebeutel und vieles mehr.

Trotzdem verstärkten sich Hast und Hetze, was schwerfällt nachzuvollziehen, denn um 1880 arbeitete der Mensch noch etwa 72 Stunden pro Woche. Inzwischen verbringt der Mensch in der Industriegesellschaft nur noch ein Zehntel seines Lebens mit Arbeit zum "Broterwerb". Eigentlich müsste er ein Freizeitmillionär sein, doch tatsächlich plagt ihn ein Zeitparadox: keine Zeit. Denn die Last der Hast hat auch die private Sphäre infiziert. Gewonnene Zeit wird gleich wieder ausgegeben, als würde der Mensch jede nicht produktiv genutzte Minute als verpasste Gelegenheit empfinden. So stiftet der große Trend bis heute Verwirrung beim Zeiterleben.

Das nächste Paradox: Der Mensch in der rasenden Gesellschaft glaubt, dass die Zeit für ihn immer schneller vergeht als zum Beispiel für die Massai in der Savanne Tansanias. Eingezwängt in ein Korsett der Rund-um-Beschleunigung wächst die Sehnsucht nach, ja wonach eigentlich? Nach erfüllter, erlebnisreicher und vor allem selbstbestimmter Zeit, wo keine Taktgeber von außen Hamsterräder komponieren. Nicht zufällig spielt die Tourismuswerbung mit diesen Zeitmysterien und beschreibt Sehnsuchtsziele als Orte, "wo die Uhren anders gehen" oder "die Zeit stehengeblieben ist". Ein offensichtlich falsches Versprechen, denn Sekunden sind Sekunden und Stunden Stunden, egal ob sie in Europa oder Afrika gemessen werden. Gleichwohl erstaunt, dass diese Täuschung noch in keinem der vielen Reiseschadensersatzprozesse eine Rolle spielte. Offenbar spielen Reiseanbieter und -kunden auf einer Klaviatur identischer Assoziationen. Der Kunde weiß, was der Anbieter meint, und der Anbieter, was der Kunde will: Nur raus aus der Stresswelt und rein in eine, wo nicht Uhr und Kalender herrschen.

Die Geheimnisse subjektiver Zeitparadoxien sind längst von Psychologen und Zeitforschern gelüftet worden. Sie haben zum Zeiterleben viel herausgefunden, was bis heute gilt. So erlebt der Mensch Dinge, andere Menschen oder Situationen nie ohne seine Gefühle: Je angenehmer, vielfältiger und leistungsfordernder die Reize sind, die er in einer Zeitspanne zu verarbeiten hat, desto schneller verfliegt die Zeit und täuscht schließlich das Gedächtnis. Was dort wie abgespeichert wird, bestimmen die Emotionen. So entstehen trügerische Erinnerungen: Kurzes und Erlebnisreiches dehnt sich, Wochenlanges und Eintöniges verkürzt sich. Eine Woche Wandern in den Bergen oder auf der Insel fühlen sich rückblickend wie vier Wochen an, während ein mehrwöchiger Klinikaufenthalt auf Tage schrumpft. Das erklärt auch, warum der Fernseher oder Elektronikspiele nur Instrumente zur Vertreibung der Langeweile - Zeitvernichtungsmaschinen - sind: Sie berieseln und unterhalten, was ausreicht, um Sinne und Gehirn zu beschäftigen, aber kratzen nur oberflächlich an der Emotion. Auf diesem Weg entsteht nichts, was das Gedächtnis so abspeichert, dass es die Erinnerung dehnt.

Die Schweizer Zeitpsychologin Regula Schräder-Neef glaubte vor Jahrzehnten: "Unbewusst oder bewusst streben viele Menschen nicht nach einem Überfluss, sondern nach einem Mangel an Zeit." Bei der Flucht vor persönlichen Problemen werde verstärkt darauf geachtet, dass keine Lücken im Tagesablauf entstünden. Auch die Soziologen haben zur Erhellung beigetragen. Vor Jahrzehnten hieß es: Je höher ein Mensch in der Hierarchie stehe, desto mehr spüre er Zeitdruck und werde vom Diktat der Zeit versklavt. Zeitmangel schien auch eine Art Statussymbol geworden zu sein; es gehörte gewissermaßen zum guten Ton, keine Zeit zu haben - als Zeichen der eigenen Unentbehrlichkeit und Wichtigkeit. Einst war es in der aristokratischen Oberschicht genau umgekehrt: Man hatte Geld, Zeit zur Muße und Macht - und mehr Zeit zum Nachdenken.

Dann knallte die Digitalisierung in die Welt und puschte die Beschleunigung nochmals. Handys, Heimcomputer, Internet, Laptops, Tablets. Seitdem schwappt eine gigantische Kommunikationswelle auf jeden Einzelnen zu und um den Globus - und fegte die alte "Hab'-keine-Zeit-Hierarchie" weg. Heute ist fast jeder betroffen, der über mehr verfügt als einen Festnetzanschluss. Allerdings spalten sich die Zeiterlebniswelten in alternden Gesellschaften: Hier die Gehetzten in der Arbeitswelt, dort die Pflegefälle und Langzeitarbeitslosen.

"Wenn wir glauben, wir sind nur die Opfer der Technik, dann sehen wir das falsch", sagt Deutschlands führender Zeitsoziologe Hartmut Rosa und glaubt, dass die technologischen Möglichkeiten "mit unserer Vorstellung von Freiheit und Glück" korrespondieren und sie auch deshalb genutzt werden, weil Handy, Internet, Facebook & Co. "die Weltreichweite jedes Einzelnen vergrößern". Der US-Zeitforscher Robert Levine sieht es ähnlich: "Wir sind süchtig nach Geschwindigkeit." Allein das Flugzeug ließ den Erdraum auf ein Sechzigstel seiner Größe schrumpfen.

Für den Menschen brachte der Innovationsschub den Vorteil oder die Plage der ständigen Erreichbarkeit. Aus dem sanften Landregen externer Ansprachen früherer Tage ist der tägliche Kommunikations-Hurrikan geworden. So kann eine E-Mail per Tastendruck an Tausende Empfänger gesendet werden. Im Idealfall (aus Sicht des Absenders) lesen also 1000 oder 10 000 Personen, was ein Einzelner geschrieben hat - und verbrauchen dabei Zeit.

Überlastungssymptome: Hier Stau, dort Burnout

Schon das Auswählen, was ungelesen zu löschen ist, kostet Minuten. Der dienstliche Account quillt regelmäßig über mit Mails, die keiner braucht. Danach beginnt die sogenannte Freizeit. Ist der Briefkasten zum Anfassen leer, warten garantiert Mails auf Beantwortung. Hier prasselt sehr Unterschiedliches in den Kalender und ins Gemüt. Denkbar: "Die Klassenpflegschaftssitzung beginnt nicht um 19 Uhr, sondern eine Stunde später." Oder: "Wusstest Du, dass unser Klassenclown Ralf aus der Abizeit letzte Woche gestorben ist?" Oder: "Lade Dich zu unserer Hochzeitsparty auf der Insel ein." Oder: "Ihr Paket wird morgen zwischen 14 und 18 Uhr bei Ihnen eintreffen." Oder: "Ich muss absagen, weil bei meiner Frau Krebs diagnostiziert wurde."

Dazu funken noch SMS und Facebook in den 18-Stunden-Wachzustand. Der Verstand bewältige das alles, so Rosa, aber mit dem emotionalen Einfinden werde es schwierig. Am Ende stehe vielleicht eine Art "Gefühlstaubheit" oder die "Radikalform Burnout", denn nicht alles ließe sich unbegrenzt beschleunigen, so auch der menschliche Körper und die Psyche nicht. So kommt es in der auf allen Ebenen der Gesellschaft zu Überlastungssymptomen - Störungen, die ein System zwangsentschleunigen. Hier der Stau auf der Straße, dort die psychische Erkrankung. Zeitforscher sprechen beim Menschen von "inneren Uhren" und "Eigenzeiten".

Der Mensch hat bisher nur das Nutzvieh überlistet, aber nicht sich selbst. Im Hühnerstall verkürzen Zeitschaltuhren Tage und Nächte, um die Eierproduktion anzukurbeln. Oder Mast statt Schlachtreife: Vor 100 Jahren wurde ein Schwein erst nach drei Jahren zum Schnitzel, heute nach sechs Monaten. Wollte man die Beschleunigung bei der Fleischproduktion fortsetzen, landet man im nächsten Zeitparadox: Das Schwein würde geschlachtet, bevor es geboren wäre. Auch andere Reifeprozesse lassen sich nur begrenzt beschleunigen: Wein, Käse und, würden Kritiker im Hinblick auf Bologna-Prozess und verkürztes Abitur anmerken, Bildung. Denn auch Halbbildung spart Zeit.

Unterdessen lässt sich vor jeder Bushaltestelle beobachten, dass die Smartphone-Zeit eine Kopf-runter-Generation hervorgebracht hat. Die neuen Möglichkeiten kommen beim Nachwuchs auch deshalb an, weil der elektronische Partner einfach mehr bietet als Artgenossen, zum Beispiel eine nie ermüdende Aufmerksamkeit. Das Spiel auf dem Display erfordert stets höchste Konzentration. Da verwundert es nicht, dass Kinder und Jugendliche die "neuen Freunde" schätzen, irgendwann als unentbehrlich empfinden und jegliches Zeitgefühl verlieren.

Rund zwei Drittel der Acht- bis 14-Jährigen in Deutschland besitzen bereits so ein Smartphone, mit dem man auch telefonieren kann, aber vor allem Bilder schießen, Filmchen drehen, mobil im Internet surfen und via WhatsApp (siehe Info-Kasten rechts) dem Freundeskreis mitteilen kann: "Ich gehe jetzt ins Bett". Antwort: "Achso, aber okay." Die Probleme sind zahlreich: Lehrer klagen über Konzentrationsschwächen und Mobbing in den sozialen Medien und kämpfen täglich für die Einhaltung der Smartphone-Benutzungsregeln. Und die Medienpädagogik kommt kaum hinterher.

Massiver Widerspruch zur "digitalen Demenz"

So ist nicht nur für Zeitforscher ein weites Feld entstanden. Keine Überraschung: Die breite Palette elek-tronischer Möglichkeiten hat das subjektive Zeitparadox gigantisch vergrößert. Zeit verfliegt jetzt noch schneller. Während die Hirnforscher mit bildgebenden Verfahren schnell wussten, dass beim Chatten und Posten dieselben Gehirnregionen stimuliert werden wie beim Essen oder Sex und auf "Wiederholungsgefahr" und Suchtrisiko hinwiesen, schweben Philosophen und Medienpädagogen noch zwischen einerseits und andererseits.

Die Wortmeldungen sind zahlreich. "Wer bin ich, wenn ich online bin . . . und was macht mein Gehirn solange - Wie das Internet unser Denken verändert": In seinem Buch beschreibt der Amerikaner Nicholas Carr, wie intensive, jahrelange Internetnutzung sein Gehirn verändert hat. Er habe an sich beobachtet, dass er nicht mehr als lesender Tiefseetaucher unterwegs sei, der komplexe Texte durchdringe, sondern eher wie ein Surfer an der Wasseroberfläche. Macht also das Internet aus Bücherwürmern Querleser und zu viel googlen blöd?

Ja, sagt der streitbare Psychiatrie-Professor Manfred Spitzer mit seinem Bestseller "Digitale Demenz". Der wachsende Konsum elektronischer Medien führe zur oberflächlichen Beschäftigung mit Informationen und gehe zulasten des aktiv tätigen Lernens. Das Gehirn müsse, wie ein Muskel, trainiert werden. Dazu gibt es massiven und auch begründeten Widerspruch, insbesondere von Medienpsychologen. Forscher an sich sehen das Internet ohnehin anders und sprechen von einer "geistigen Revolution". Warum? Weil das Weltwissen jetzt nur wenige Klicks entfernt liegt und damit näher als je zuvor. Fazit: Letzte Antworten gibt es (noch) nicht. Ob das Internet hingegen süchtig machen kann, hängt - wie bei jeder Sucht - von der Tagesdosis ab. China, Japan und Südkorea betreiben inzwischen Entzugscamps für Kinder und Jugendliche.

Die große Debatte um die These, ob das Online-Dasein auch das Denken verkürzt, lässt sich indes (noch) nicht mit "Ja" oder "Nein" beurteilen. Friedrich Nietzsche bemerkte 1882 bei seinen ersten Kontakten mit der Schreibmaschine im Kern nichts anderes als Carr fast 130 Jahre später. Der Philosoph notierte: "Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken" - und verändert möglicherweise auch einige Verknüpfungen in unserem Gehirn. So wie sich beim Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kultur Fähigkeiten verflüchtigten und neue entstanden, vollziehen sich jetzt auch und zwangsläufig Änderungen beim Aufbruch in die digitale Welt.

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