Das liebste Sorgenkind der Deutschen Autodichte in Deutschland so hoch wie nie zuvor

Bonn · Mit 548 Fahrzeugen pro 1000 Einwohnern hat Deutschland einen neuen Höchststand erreicht, obwohl der Verkehr auf den Straßen beim Klimaschutz große Probleme bereitet. Es gibt aber eine Gegenbewegung.

Sonntagmittag in Burscheid-Hilgen, die Sonne brennt vom strahlend blauen Himmel. Auf dem Schotterplatz nahe der ehemaligen Bahntrasse reihen sich rund 100 chromverzierte Stoßstangen aneinander. Ein hellblaues Cabrio mit Heckflossen, ein Opel mit einem riesigen Kühlergrill, der an einen Wal erinnert, und aufsitzenden runden Scheinwerfern wie Glubschaugen, die nicht in die Karosserie eingebettet sind. Markus Decker sitzt im Campingstuhl vor einem knallroten Citroen GS, Baujahr 1978. „Der ist seit 30 Jahren in der Familie“, erzählt der Kfz-Technikermeister. „Ist der nicht schöner als der ganze Einheitsbrei heute?“

Oldtimertreffen im Bergischen Land. Bundesweit finden an diesem Wochenende mindestens zwei Dutzend solcher Veranstaltungen statt. Es gibt immer mehr Fans von historischen Fahrzeugen, erkennbar am Buchstaben H, der am Ende des Autokennzeichens nach der Zahlenkombination steht. Tragen dürfen sie Pkw, deren Baujahr mindestens 30 Jahre zurück liegt und die noch im Originalzustand sind.

Die Zulassungszahlen belegen es: Zum 1. Januar waren in Deutschland fast eine halbe Million Oldtimer beim Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Flensburg gemeldet, fünf Jahre zuvor waren es lediglich 285.000. Auch ihr Anteil am Fahrzeugbestand wächst, in diesem Zeitraum von 0,5 auf 0,7 Prozent

Dabei ist dies nicht nur eine Geschichte über Liebhaber von altertümlichen Blechkarossen. Es geht darum zu verstehen, warum auf Deutschlands Straßen von Jahr zu Jahr immer mehr Pkw rollen – trotz Abgasskandals, trotz des Ärgers über Endlosstaus und wider den angeblichen Trend zu Klimaschutz und Sharing Economy.

Mit 46,5 Millionen Pkw waren im Januar 2018 noch nie so viele Autos beim Kraftfahrt-Bundesamt gemeldet wie heute. Die Pkw-Dichte erreichte mit 548 je 1000 Einwohner 2017 einen neuen Höchststand, 2010 waren es noch 527 Pkw je 1000 Einwohner gewesen. Innerhalb Europas rückte Deutschland damit im vergangenen Jahr von Rang acht auf Platz sechs.

Bus und Bahn bieten Pendlern oft keine attraktiven Alternativen

Je kleiner, je enger: In Luxemburg war die entsprechende Motorisierungsquote mit 661 Pkw pro 1000 am höchsten, gefolgt von Malta (634), Italien (610), Finnland (590) und Zypern (575). Den geringsten Wert hatte Rumänien mit 261 Pkw je 1000 Einwohner. Weltweit wächst nach diversen Hochrechnungen die globale Automobilflotte aktuell schneller (2,6 Autos pro Sekunde) als die Weltbevölkerung (2,5 Menschen pro Sekunde).

Ein Grund für den Autoboom ist die Konjunktur. „Wir erleben einen historisch langen Wirtschaftsaufschwung, und es gibt ein hohes Mobilitätsbedürfnis“, erklärt Martin Endlein, Sprecher der Deutschen Automobiltreuhand (DAT). Die vor bald 90 Jahren gegründete Gesellschaft sammelt alle Daten der Automobilhersteller und –händler und wertet sie aus.

Arbeit, Freizeit und das veränderte Leben auf dem Land treiben die Motorisierung auf immer neue Rekordwerte. Der Jobmarkt boomt, Arbeitsplatzwechsel sind häufig, aber ein Umzug teuer, zeitaufwendig und oft mangels bezahlbarem Wohnraum nicht machbar. Viele Beschäftigte werden deshalb zum Pendler und nehmen lange Anfahrten zum Arbeitsplatz in Kauf. Busse und Bahnen sind für sie oftmals keine attraktive Alternative.

„69 Prozent der Bewohner Deutschlands leben in Städten unter 100.000 Einwohnern“, erklärt Endlein, 15 Prozent lebten in Dörfern, die nicht einmal 5000 Einwohner hätten. „Dort gibt es oftmals keinen Arzt, nicht einmal einen Tante-Emma-Laden mehr.“ Wenn der Bus nur bis acht Uhr abends verkehrt und sonst auch nur alle zwei Stunden fährt, lebt es sich ohne eigenes Auto wie ein Fisch auf dem Trockenen. Als Landbewohner abends zum Theater in die Stadt? Undenkbar ohne Auto. Das hat auch eine Untersuchung des Car Centers Automotive Research der Universität Duisburg-Essen bestätigt. Autor Ferdinand Dudenhöffer: „Es gilt: Je ländlicher die Gegend, umso mehr Autos besitzen die Bürger. Oder umgekehrt, je größer die Stadt, umso weniger Autos pro Einwohner.“

„Unsere Daten zeigen aber auch, dass die Finanzierungsquote beim Pkw-Kauf gestiegen ist, weil Geld billig ist“, berichtet Endlein. Dem Autohandel spielt zudem in die Hand, dass die Hersteller ihre Modellreihen stark erweitert haben. „Unter dem Opel Corsa gibt es heute noch zwei kleinere Modelle – den Opel Karl und den Opel Adam“, sagt Endlein. Mercedes habe inzwischen 14 verschiedene Grundmodelle. Insgesamt habe der Käufer rund 2000 Modelle, unter denen er beim Händler wählen könne. So gibt es für jeden Geschmack, jedes Bedürfnis und jeden Geldbeutel das passende Auto. „Es ist unglaublich leicht, individuell mobil zu sein.“

Und dann gibt es noch das Phänomen der jungen Alten. „Senioren sind heute fit und haben Kohle“, weiß Endlein. So ist die Autodichte in Deutschland auch deshalb gestiegen, weil der Anteil der über 60-jährigen Fahrzeughalter deutlich gewachsen ist. Laut KBA stieg er von 2008 bis 2017 um zehn Prozent, die Pkw-Dichte in diesem Bevölkerungsteil nahm aber um 25 Prozent zu. Das heißt: Fast zwei Drittel der über 60-Jährigen besitzt ein zugelassenes Fahrzeug, vor neun Jahren galt das nur für jeden Zweiten.

Bundesbürger fahren immer mehr Kilometer pro Pkw

Insgesamt ist der Verkehr das Sorgenkind des deutschen Klimaschutzes geblieben, weshalb er auch seine Ziele bis 2020 nicht erreicht. Die zunehmende individuelle Motorisierung, der wachsende Güterverkehr auf der Straße und nicht zuletzt die Beliebtheit von Geländewagen haben die Fortschritte bei Kraftstoffverbrauch und Emissionsminderung wieder aufgefressen. Nach Angaben des Umweltbundesamtes (UBA) sank der Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) nach 1995 pro Kilometer bei Personenkraftwagen durchschnittlich um 13 Prozent, bei Lastkraftwagen sogar um 31 Prozent. Das UBA-Fazit: „Weil aber mehr Lkw unterwegs sind, liegt die gesamte CO2-Emission im Straßengüterverkehr heute um 16 Prozent höher als 1995.“ Trotzdem dominiert bei der Verkehrsgesamtemission der Pkw-Verkehr mit 61 Prozent (Lkw: 35 Prozent).

Der Pkw-Verkehr ist deutlich jener Sektor, der die höchsten externen Umwelt- und Unfallkosten von allen Transportmitteln verursacht. Während der Flugzeugverkehr pro Person die meisten Treibhausgase produziert, ist es die schiere Masse des motorisierten Individualverkehrs, der die Gesellschaft – Luftverschmutzung, Lärm, Beeinträchtigung von Natur und Landschaft, Zusatzkosten in städtischen Räumen – am teuersten zu stehen kommt.

Von den 80 Milliarden Euro, die das UBA für das Jahr 2005 an externen Umweltkosten festgestellt hat, entfielen 76 Prozent auf den Pkw-Verkehr. Zum Vergleich: Knapp 20 Prozent der Kosten verursachte der Güterstraßenverkehr, drei Prozent der Schienenverkehr, 0,6 Prozent der Luftverkehr und 0,5 Prozent die Binnenschifffahrt.

Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Bereits 2014 prognostizierte das Bundesverkehrsministerium einen Anstieg der per Pkw zurückgelegten Personenkilometer von 2010 bis 2030 um zehn Prozent.

Dass den Deutschen das Auto weniger wichtig geworden sei, lässt sich an den Zulassungsdaten nicht ablesen. „In der Gesamtbevölkerung ist der Sinneswandel eher graduell“, urteilte vor wenigen Jahren der Meinungsforscher Winfried Hagenhoff. Ein Führerschein wird heute zwar nicht gleich mit 18 Jahren gemacht, aber wenn Familie und Kinder kommen, entsteht bei den meisten das Bedürfnis nach dem eigenen fahrbaren Untersatz. Die Muttikutsche ist zwar dem Spott ausgesetzt, doch sie ist vor allem auf dem Land unverzichtbar.

Der Luxus, ohne Auto zu leben

Und doch springen nicht alle auf diesen Zug auf, wollen das Lied vom Auto, das je nachdem Freiheit, Genuss und Lebensfreude bedeutet, nicht anstimmen. „Verzicht?“, fragt Gunhild Preuß-Bayer zurück, als sie sagen soll, wie ein Leben ohne Pkw aussieht. „Wir leisten uns den Luxus und das Vergnügen, ohne Auto zu leben“, sagt die 69-jährige. „Wir“, das ist der Verein „Autofrei leben“, dem Preuß-Bayer vorsteht. Seit 20 Jahren tauschen sich hier Menschen aus, die mobil ohne Auto sein wollen. „Wer bei uns Mitglied wird, unterschreibt, dass er nicht ein privat zugängliches Auto nutzt. Deshalb kann auch jeder Taxi- oder Busfahrer Mitglied werden“, erklärt die studierte Mathematikerin.

Die Münchnerin hat ihre ganz eigene Geschichte, die sie zum autofreien Leben führte. Anfang 20 schaffte sie sich eine „Schrottkarre“ an, die sei wohl „ Erwachsenensymbol“ gewesen. Als das Gefährt bald aus Altersschwäche ausfiel, konnte sie das Auto ihres Freundes fahren. Aber das ständige Leben im Verkehrsstau war sie schnell leid.

„Ich habe dann einen Ehemann ohne Auto gefunden“, erzählt Preuß-Bayer. Der arbeitete als EDV-Dienstleister, war viel außer Haus zu seinen Kunden unterwegs – und bewältigte das alles mit Bahn, Bus und Taxi. „Er hatte das Glück, dass sich seine Firma auf dieses Experiment einließ.“ Preuß-Bayer glaubt auch nicht, dass Kinder ohne Auto nicht großgezogen werden könnten. „Zugfahren ist doch für Kinder viel interessanter. Unsere konnten im Gang auch mal hin- und herlaufen.“

Als Ideologie versteht die Vereinsvorsitzende ihre Haltung nicht, obgleich sie auch über „die wahnsinnige Wirtschaftsmacht der Autoindustrie“ schimpft. Wer auf der Vereinsseite im Internet die Rubrik „Fragen und Antworten“ liest, erfährt, dass für die Autofrei-Anhänger Elektro-Pkw keine Alternative sind, weil allein bei der Autoproduktion doppelt so viel klimaschädliches CO2 produziert werde als beim Fahren. Deshalb setzt die kleine Autofrei-Bewegung mit 200 Mitgliedern neben den öffentlichen Verkehrsmitteln auch auf das Fahrrad.

Ein Fahrrad aus Gold

Kürzlich war Preuß-Bayer auf der Spezialradmesse im pfälzischen Germersheim. „Da gab es Fahrräder mit Verkleidung für jedes Wetter.“ Auch für Körperbehinderte würden inzwischen Zweiräder entwickelt, für Schlaganfallpatienten etwa gab es ein elektrisch unterstütztes Dreirad. Längst sind Luxus und Extravaganz in die Fahrradszene eingezogen: Es gibt sie aus Titan, aus Holz oder komplett vergoldet (zum Preis eines Einfamilienhauses). „Man braucht heute keinen Porsche mehr, um anzugeben“, sagt Preuß-Bayer. Als sie neulich einen Hexenschuss hatte, wollte sie erst im Bett bleiben. Am Ende zog es sie doch in ihre Kleingartenkolonie. „Auf der Fahrradfahrt dahin ging's mir wieder gut. Mein Rücken sagte mir: Die Bewegung ist wunderbar.“

Neben Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Gesundheit ist es der Lebensrhythmus, der sich mit dem autofreien Leben verändert: „Er entspricht mehr dem Tempo, das uns in die Wiege gelegt ist“, resümiert Preuß-Bayer. Und wenn doch einmal etwas mehr zu transportieren ist? Dann können autolose Menschen immer noch ein Fahrzeug mieten oder Carsharing machen.

Die Carsharing-Anbieter vermelden einen neuen Rekord: Über zwei Millionen Kunden zählten sie im Februar, ein Plus von 23 Prozent gegenüber 2017. In fast 680 Städten findet sich ein solches Angebot, 80 mehr als im Vorjahr. Die Hälfte der Orte mit Carsharing-Angebot haben sogar weniger als 20.000 Einwohner, was dagegen spricht, dass das Konzept nur in Metropolen funktioniert. DAT-Sprecher Endlein sieht darin jedoch noch kein Erfolgsmodell: „Kein Autosharinganbieter ist in den schwarzen Zahlen.“

Experiment Carsharing

Noch wird experimentiert: BMW und Daimler wollen ihre beiden Dienste Drivenow und Car2Go zusammenlegen, so denn die Kartellwächter bald zustimmen. Die Idee der Fusion ist, die Kunden nicht nur über ein größeres Fahrzeugangebot zu locken, sondern über diverse Mobilitätsapps, zu denen etwa auch der Fahrdienst Mytaxi gehört, eine neue Form der Fortbewegung zu ermöglichen. Der Nutzer gibt dann nur noch Stand- und Zielort auf seinem Smartphone ein, das ihm sogleich die beste Verbindung inklusive Verkehrsmittel vorschlägt.

Begonnen hat der Weg in die Mobilität der Zukunft also schon, und die Oldtimer-Fans müssen dazu noch nicht einmal im Widerspruch stehen. „Wir lieben die alte, einfache Technik in diesen Autos, die jeder versteht“, sagt Gerd Knetsch (75). Seinen Opel Baujahr 1935 fährt er, wenn möglich, sogar täglich. Der Klassiker ist zwar nicht gerade umweltfreundlich. Dafür erlaubt er die Entschleunigung, die vielen fehlt: Knetsch ist mit dem Opel sogar mal nach Graz gezuckelt, 3000 Kilometer hin und zurück, Tempo 75 in der Spitze. Er fand es „sehr angenehm“.

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