Interview mit Martin Litsch AOK-Chef: „Die Gesundheitskarte ist gescheitert“

Der Chef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, fordert für die Digitalisierung des Gesundheitswesens einen Neustart. Er beklagt, dass bislang zwei Milliarden Euro ohne sichtbaren Nutzen in die digitale Gesundheitskarte investiert wurden. Mit ihm sprach Eva Quadbeck.

Wann wird die elektronische Gesundheitskarte endlich mit allen geplanten Funktionen Realität?

Litsch: Die elektronische Gesundheitskarte ist gescheitert. Seit beinah 20 Jahren wird in dieses System investiert und bislang gibt es keinen Nutzen. Bis Ende 2018 werden wir zwei Milliarden Euro dafür aufgewendet haben. Das ist eine Technologie aus den 90er Jahren, die zu Monopolpreisen aufrechterhalten wird. Das ganze Vorhaben ist längst überholt. Wenn wir wirklich auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens setzen, brauchen wir einen Neustart.

Welche Alternative gibt es zur Gesundheitskarte?

Litsch: Die Gematik, also die Gesellschaft, die bislang die Gesundheitskarte entwickelt hat, muss in eine Regulierungsagentur umgewandelt werden. Sie sollte nur noch die Rahmenbedingungen für Sicherheit, Transparenz und Anschlussfähigkeit schaffen und darauf hinwirken, dass internationale inhaltliche Standards beispielsweise für Patientenakte und Medikationsplan genutzt werden. Es ist nicht sinnvoll, jedes Umsetzungsdetail auf einer Gesundheitskarte vorzuschreiben. Es ist auch unrealistisch, wie es das System der Gesundheitskarte vorsieht, dass die Patienten ihre Daten nur in Arztpraxen einsehen können. Sie müssen jederzeit Zugriff haben, auch mobil über ihre Smartphones.

Öffnet das nicht dem Datenklau in einem besonders sensiblen Feld Tür und Tor?

Litsch: Nein. Ähnlich wie beim Online-Banking sind die Gesundheitsdaten von Versicherten geschützt. Die Datenhoheit liegt ausschließlich beim Patienten. So ist es auch bei unserem eigenen Vernetzungsprojekt vorgesehen. Die Daten bleiben dort, wo sie heute auch liegen, bei Ärzten und Krankenhäusern in sicheren Systemen. Und der Versicherte bekommt die Möglichkeit, die Informationen einzusehen und für andere Ärzte freizugeben. Ich hoffe, dass der neue Gesundheitsminister die Zeichen der Zeit erkennt und die Digitalisierung im Gesundheitswesen auf neue Füße stellt.

Können die Krankenkassen den geplanten Aufwuchs bei den Pflegekräften finanzieren?

Litsch: Die Finanzierung ist derzeit nicht unser Hauptproblem. Wir brauchen vor allem mehr Pflegepersonal und bessere Arbeitsbedingungen. Das steht außer Frage. Mehr Pflegekräfte müssen auch akademisch ausgebildet werden. Von der neuen generalistischen Ausbildung verspreche ich mir, dass wir die Pflegekräfte künftig besser dort einsetzen können, wo sie gebraucht werden. Und selbstverständlich braucht die Pflege eine angemessene Bezahlung.

Die Kassen können die Mehrkosten stemmen?

Litsch: Schon heute geben wir sehr viel Geld für Pflege aus. Im letzten Jahr hat allein die soziale Pflegeversicherung 35 Milliarden Euro ausgegeben, über sieben Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Und für die Pflege im Krankenhaus stellen die Krankenkassen rund 18 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. Allerdings wird hier nicht transparent, ob diese Milliarden auch für Pflegekräfte genutzt werden. Nach wie vor vernachlässigen die Länder ihre Pflicht zur Investition in Kliniken so stark, sodass von dem für die Pflege vorgesehenen Geld vermutlich auch Aufzüge oder Dächer repariert oder neues medizinisches Gerät angeschafft wird. Die Kliniken müssten dazu verpflichtet werden, ihre Abrechnungen für Pflegekräfte den Krankenkassen gegenüber transparent zu machen. Dann wären wir einen großen Schritt weiter.

Künftig sollen die Pflegekosten im Krankenhaus ja nicht mehr über Fallpauschalen abgerechnet werden. Schafft das die gewünschte Transparenz?

Litsch: Im günstigsten Falle kommt es zu mehr Transparenz. Dieser Plan ist aber aus anderen Gründen ein Problem. Eine Ausgliederung der Pflegekosten aus den Fallpauschalen in Verbindung mit der Einführung des Selbstkostendeckungsprinzips birgt die Gefahr einer nicht kontrollierbaren Kostensteigerung. Das halte ich für fatal.

Wie lässt sich der Pflegeberuf attraktiver machen?

Litsch: Ärzte und Pflegekräfte müssen zu anderen Formen der Zusammenarbeit kommen. Bei der Pflege eines alten Menschen mit vielen Krankheiten lassen sich Pflege und Heilung nicht immer trennscharf unterscheiden. Deshalb ist eine Akademisierung der Pflege wichtig. Sie wird dazu führen, dass mehr Heilkunde durch die Pflege möglich ist. Heute läuft alles über den Arzt. Das macht die Arbeitsabläufe kompliziert. Das muss man patientenorientierter handhaben.

Welche Felder meinen Sie konkret, die qualifizierte Pflegekräfte übernehmen könnten?

Litsch: Ein alter Mensch mit vielen Krankheiten braucht von der Pflegekraft ein Bündel an fachlichen Fähigkeiten und menschliche Zuwendung. In Zukunft müssen Pflegekräfte auch im ambulanten Bereich Blut entnehmen oder Infusionen geben dürfen. Auf einer digitalisierten Station hätten dann Pflegekräfte und Ärzte gleichermaßen Einblick in die Patientenakte. Alle Behandlungen wären zu jeder Zeit transparent für alle Beteiligten einsehbar. Die Eifersüchteleien der Berufsgruppen untereinander müssen ein Ende haben.

Es sind ja vor allem die Ärzte, die sich gegen mehr Aufgaben für die Pflege wehren . . .

Litsch: Für die Ärzte ist das berufspolitisch ein schwieriger Punkt, weil sie etwas abgeben müssen.

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