Neue GA-Serie Lehrstellen-Check Interview zu Ausbildungsplätzen in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis

Bonn/Rhein-Sieg-Kreis · Vielen Betrieben mangelt es an Auszubildenden. Zurzeit gibt es über 2500 offene Ausbildungsstellen in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis. Das bekommen auch Jürgen Hindenberg von der IHK und Kreishandwerksmeister Thomas Radermacher zu spüren.

Der Trend zeichnet sich deutlich ab: Immer mehr junge Leute zieht es an die Hochschulen, vielen Betrieben mangelt es an Auszubildenden. Das bekommen auch Jürgen Hindenberg, Geschäftsführer im Bereich Berufsausbildung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Bonn/Rhein-Sieg, und Thomas Radermacher, Kreishandwerksmeister des Rhein-Sieg-Kreises, zu spüren. Mit ihnen sprachen Sofia Grillo und Matthias Kirch.

Zurzeit gibt es über 2500 offene Ausbildungsstellen in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis. Warum ist das so?

Jürgen Hindenberg: Vor zehn Jahren hatten wir noch einen sehr großen Überschuss, es gab viele Jugendliche in den Warteschleifen. Da konnten die Betriebe aus dem Vollen schöpfen. In den letzten Jahren haben sich viele Betriebe nicht früh genug damit auseinandergesetzt, was sie tun können, um attraktiv zu bleiben. Außerdem haben wir hier in der Region die höchste Abiturientenquote in ganz Nordrhein-Westfalen. Das heißt, dass der Trend in den Schulen bei der Vorbereitung eher Richtung Studium geht.

Wer muss sich ändern – die Betriebe oder die Jugendlichen?

Thomas Radermacher: Ausbildungen im handwerklichen Bereich haben ein Imageproblem. Viele denken, man verdient in diesen Berufen weniger Geld. Doch das stimmt meist gar nicht. Als Geselle oder Meister verdient man ganz ordentlich – da kann man ein Monatseinkommen im mittleren vierstelligen Bereich erzielen. Für die Betriebe gilt es, das in den Köpfen der Jugendlichen zu zementieren. Sie müssen offensiver für sich werben. Außerdem müssen die Betriebe Eltern und Lehrer mehr einbeziehen, die in der Berufsfindung eine große Rolle spielen.

Was wird schon gemacht, um Ausbildungen attraktiver zu machen?

Hindenberg: Wir veranstalten gemeinsam mit der Handwerkskammer den Arbeitskreis „Schule-Wirtschaft“. Da gibt es für Lehrer die Möglichkeit, regelmäßig Betriebe zu besuchen. Es wird ja auch häufig gefordert, die Betriebe in die Schulen zu bringen. Aber dann kann derjenige ja nur von seiner Arbeit erzählen. Wichtiger ist es, dass Schüler Betriebe kennenlernen und die Arbeit dort erleben. Was wir auch mit der Handwerkskammer gemeinsam machen, ist junge Auszubildende als sogenannte Ausbildungsbotschafter in die Schulen zu schicken. Wenn die etwas über ihren Weg erzählen, ist das überzeugend. Man sollte noch mehr in punkto Berufsorientierung machen.

Radermacher: Wir bieten beispielsweise Berufsfelderkundungen an, bei denen Schüler durch Betriebe geführt werden. Wir sind als Branche und mit Firmen auf allen einschlägigen Messen vertreten. Aber es gibt kein Patentrezept. Die Lösung setzt sich aus vielen kleinen Mosaiksteinchen zusammen. Betriebe müssen sich neuen Wegen öffnen, Schüler und Eltern müssen besser informiert werden und Lehrer müssen Betriebe und Ausbildungen selbst kennenlernen.

Was können Unternehmen tun, um für Ausbildungsplätze zu werben?

Hindenberg: Wenn ich ins Internet gehe und drei- oder viermal klicken muss, um zu erfahren, dass das Unternehmen ausbildet – das dauert viel zu lange. Die Unternehmen müssen mehr Werbung machen und sich zeigen. Ich muss mich auch so darstellen, dass ich den jungen Menschen Zukunftsperspektiven biete. Das heißt: Wie stehen die Chancen zur Weiterbeschäftigung nach der Ausbildung, welche Aufstiegsmöglichkeiten gibt es, wie sieht es mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus?

Ein Azubi bekommt im wahrsten Wortsinne Lehrgeld. Wie soll die Ausbildung für junge Leute attraktiv sein, wenn sie kaum verdienen?

Radermacher: „Kaum etwas verdienen“? Das stimmt so in den allermeisten Handwerksberufen nicht. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dem Ausbildungsgehalt und der Attraktivität der Stellen. Im Baugewerbe bekommt man im ersten Lehrjahr schon über 1000 Euro Gehalt und dennoch fehlen dort die Bewerber. Ich bin stark gegen die kürzlich aufgekommene Forderung aus der Politik nach einer Mindestausbildungsvergütung mit Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn. Wenn man das duale Ausbildungssystem zerstören möchte, dann so. Das Ausbildungsgehalt soll nicht den Lebensunterhalt decken. Es ist eine Beihilfe, die die Arbeit schmackhaft machen soll. Mehr könnten sich viele Betriebe kaum leisten, und damit würde die große Bereitschaft der Betriebe schwinden, auszubilden.

Hindenberg: Ich gehe davon aus, dass es eine Mindestausbildungsvergütung geben wird, die sich an der durchschnittlichen Ausbildungsvergütung der jeweiligen Branche orientieren wird. Das ist eine Forderung der DGB-Jugend, die in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Die Vergütung muss aber auch in Maßen bleiben, denn die Investition des Betriebes für einen Ausbildungsplatz beträgt im Schnitt 40 000 Euro.

Wie setzt sich die Summe von 40 000 Euro für einen Ausbildungsplatz zusammen?

Hindenberg: Das sind die Ausbildungsvergütung, die Ausstattung, die Kosten für den Ausbilder, die Lehrmaterialien und überbetriebliche Ausbildung.

Abiturienten einen Ausbildungsberuf schmackhaft zu machen, ist besonders schwer. Wie kann das trotzdem gelingen?

Hindenberg: Ich will einem Abiturienten das Studium nicht ausreden. Ich wünsche mir, dass das Schulsystem so gut ist, dass die Berufsorientierung jemandem im Vorfeld eine realistische Einschätzung ermöglicht, ob er das anvisierte Studium schafft. Das würde vielen Studierenden Zeit oder die ein oder andere Enttäuschung ersparen. Wenn nur noch diejenigen an die Hochschulen gehen, die auch eine Chance haben, das Studium zu bestehen, dann haben wir auch genug Auszubildende. Und was sehr wenige wissen: Sie können mit einer Berufsausbildung ohne Abitur an jeder Hochschule in Deutschland nach einer Wartezeit von einem Jahr studieren.

Radermacher: Wir müssen zudem den jungen Leuten klarmachen, dass wir nicht nur Fachkräfte, sondern auch Führungskräfte suchen. Bei vielen Betrieben in der Region steht bald eine Übergabe an, die in den wenigsten Fällen geregelt ist.

Wollen Betriebe überhaupt, dass die frisch ausgebildeten Leute an die Hochschule abwandern?

Radermacher: Das Risiko besteht immer. Aber ich finde, man muss es eingehen. Als Ausbilder muss man es schaffen, den jungen Menschen an den Betrieb zu binden. Dabei muss man auch mal fantasievollere Wege wählen, beispielsweise neue Stellen schaffen, Aufstiegschancen bieten, die mit einer tariflichen Besserung verbunden sind oder Verantwortung delegieren und dem Nachwuchs etwas zutrauen.

Heute spielt auch die Digitalisierung eine große Rolle, gerade für junge Menschen. Haben es die Unternehmen verpennt, sich früh genug bei Social Media zu präsentieren und dort für ihren Betrieb zu werben?

Hindenberg: Ich denke, die Unternehmen haben es noch nicht verpennt. Wenn wir uns mit unseren aktuellen Auszubildenden unterhalten, stellt sich oft heraus, dass die für Informationen noch die klassischen Wege, also etwa die Internetseite des Betriebs, nutzen.

Radermacher: Verpennt würde ich nicht sagen. Im betrieblichen Alltag bleibt allerdings meist wenig Zeit, um sich auch noch mit Social Media auseinanderzusetzen. Die meisten Inhaber sind zudem zwischen 50 und 60 Jahre alt und kennen sich da nicht so aus. Bei den jüngeren Betriebsinhabern sieht das übrigens ganz anders aus. Es gibt aber auch schon Schulungen für Betriebe in Sachen Social Media. Es ist ein wichtiges Instrument mit großem Potenzial.

Wenn ein junger Mensch zu Ihnen käme, dem sowohl ein Studium als auch eine Ausbildung offen stehen würde – wie würden Sie ihn von einer Ausbildung überzeugen?

Hindenberg: Ich habe häufiger solche Gespräche. Dann frage ich immer zuerst, welche Fragen noch zweifeln lassen. Die nächste Frage geht dann in die Richtung, wo sich die Person in zehn oder 15 Jahren sieht, was sie dann machen möchte. Und dann überlegen wir gemeinsam, auf welchem Wege man dorthin kommt. Wichtig ist: Man muss sich für den individuell besseren Weg entscheiden. Ich würde niemals jemandem ein Studium oder eine Ausbildung ausreden.

Radermacher: Ich würde dem Jugendlichen erläutern, was er in der Ausbildung macht, welches Einkommen er erzielen kann und welche Karrierechancen er hat. Ich würde ihm klarmachen, dass eine Ausbildung den Vergleich mit einer akademischen Ausbildung nicht scheuen braucht und dass die Chancen auf Selbstständigkeit noch nie so gut waren wie derzeit.

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