Megacities Wie wir morgen leben (wollen)

BONN · Weltweit zieht es Milliarden Menschen in die Städte. Forscher prophezeien riesige Probleme und einen epochalen Umbruch. Nach dem Warum fragt Ranga Yogeshwar im Vorgriff auf eine Diskussion in der Bundeskunsthalle

Gut 30 Jahre ist es her, da stand Ranga Yogeshwar in der indischen Stadt Delhi und beobachtete eine Szene mit Symbolcharakter. Ein Bauer hatte seine Heimat aufgegeben und sich auf den Weg in die große Stadt gemacht - zu Fuß, seine Kühe im Schlepptau. Delhi hatte Mitte der 80er Jahre rund fünf, sechs Millionen Einwohner. Heute sind es gut elf Millionen im Stadtgebiet und 16 Millionen mit angrenzendem Umland.

"Die Stadt als Chance", sagt Yogeshwar beim Gespräch im beschaulichen Bonn vielsagend. "Sie ist lange schon nicht mehr nur Markt, sondern Nährboden für Innovationen." Und ein Magnet, der in den vergangenen Jahrzehnten eine immer größere Anziehungskraft entwickelt hat, vor allem in Asien, Südamerika und Afrika. Dort entstehen und wachsen immer mehr Millionenstädte heran, ländliche Gebiete verwaisen zusehends. Ab zehn Millionen Einwohnern wird eine Stadt Megacity genannt, ab 35 Millionen Metacity. Unbegreifliche Dimensionen. Mittlerweile gibt es weltweit rund 550 Städte, deren Einwohnerzahl sechs Nullen oder mehr hat.

Yogeshwar ist ganz tief drin in dem Thema, das viele Chancen bietet, aber auch Befürchtungen hervorruft und vor allem eine riesige Aufgabe ist, der sich nahezu die gesamte Menschheit stellen muss. Im Jahr 2007 war der Punkt erreicht, an dem genau so viele Menschen in der Stadt wie auf dem Land lebten, in 35 Jahren werden 70 Prozent der stetig wachsenden Weltbevölkerung das urbane Leben vorziehen.

Drei Milliarden Menschen werden in dieser Zeit vom Land in die Stadt ziehen, so wie der Bauer in Delhi. Das hat weitreichende Folgen, etwa was die Versorgung, die Gesundheit und die Psyche der Menschen angeht. Aber auch ökologische und ökonomische Fragen stellen sich. "In Europa haben wir überhaupt kein Bewusstsein für die Jetzt-Veränderung der Welt", sagt Yogeshwar, der in Hennef wohnt.

"Wenn ich früher in Indien mit dem Flugzeug abgehoben bin, waren die Städte oft sehr dunkel. Wenn ich heute dort oder irgendwo in Asien aus einem Lichtermeer starte und dann in Deutschland lande, denke ich: Mann, ist das gemütlich. Wir hier sind wie früher die Indios, die noch nie etwas vom zivilisierten Europa gehört hatten. Wir besingen New York, aber kennen nicht Chongqing, eine von vielen chinesischen Megacities."

Entwicklung mit dramatischer Veränderungskraft

Weltweit findet eine Entwicklung statt, der Wissenschaftler eine ähnlich dramatische Veränderungskraft zuschreiben, wie sie einst die industrielle Revolution hervorgerufen hat. Städte wie Shanghai (15 Millionen Einwohner in der Innenstadt), Lagos (geschätzte 16 Millionen) oder Mexiko Stadt (rund 25 Millionen) ufern immer weiter aus.

Forscher befürchten Vereinsamung, psychische Krankheiten, Versorgungsengpässe, Arbeitsplatz-Knappheit und eine Beschleunigung des Klimawandels, um nur einige Punkte zu nennen. Auch Europa ist davon nicht abgekoppelt, auch wenn es hier kaum Megacities gibt, wie etwa Paris mit mehr als zwölf Millionen Menschen in der Metropolregion.

"Wir werden einiges indirekt mitbekommen", sagt Yogeshwar. Die deutsche Autoindustrie verkenne etwa, dass es beim Thema Mobilität einen enormen Trendwechsel gebe - der eben nicht mehr auf das Auto als Mittel der Massenfortbewegung setze. "Die globalen Interessen finden sich in unseren Produkten nicht mehr wieder", sagt Yogeshwar. Der Wissenschaftsjournalist hat viele Thesen und vor allem Fragen an die Zukunft des Zusammenlebens der Menschen. "Wer bestimmt hier wen, die Stadt uns oder wir die Stadt?"

Yogeshwar bringt das Beispiel einer Professorin aus New York, die jeden Tag anderthalb Stunden für den weiten Weg zur Arbeit braucht, weil sie sich - wohlgemerkt als Professorin - eine Wohnung in der Stadt nicht leisten kann. Auch in Deutschland wird Wohnraum in Städten immer teurer.

"Wir sind dabei, die Städte in ihrer Grundstruktur zu ändern"

"Wollen wir die Stadt, die auseinanderdividiert, oder die Stadt, die zusammenführt?" Yogeshwar fordert, etwas gegen diese soziale Segregation zu tun, dass Städte nicht nur nach ökonomischen Kriterien gegliedert werden, sondern Wohnraum für alle sind. Er erkennt aber gleichzeitig auch, dass sich die Menschen schon von ganz allein nach Ethnien aufteilen - "Multikulti" ist eine Utopie, schaut man sich etwa Los Angeles an - es ist die Welt im Kleinformat.

"Wir sind dabei, die Städte in ihrer Grundstruktur zu ändern. Das sieht man heute schon am zunehmenden Onlinehandel. Wollen wir immer mehr DHL-Fahrzeuge in unseren Straßen, oder eine lebendige Innenstadt mit Geschäften?", fragt Yogeshwar. Ohnehin sieht der Moderator die zunehmende Digitalisierung als Kompensation für die zunehmende Einsamkeit in den Städten, in denen man, obwohl unter Millionen, doch ganz allein sein kann.

Der ganze Komplex mündet im Grunde in der Fragestellung: Wie begreifen wir uns in der Stadt der Zukunft, wie wollen wir in ihr leben? "Im Kern ist ein Nachdenken über die Stadt immer ein Nachdenken über uns selbst", sagt Yogeshwar.

Ein Großmeister dieses Nachdenkens ist der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven. Er hat unter anderem preisgekrönte Hochhäuser in diversen Städten realisiert und ist ein Experte, wenn es um die Stadt der Zukunft geht. Auch er wird sich Yogeshwars Fragen bald in der Bundeskunsthalle stellen (siehe Infokasten).

"Ohne Megacities gibt es kein Überleben auf der Erde"

Ingenhoven setzt vor allem auf Nachhaltigkeit. Er sagt: "Bei der Verstädterung unserer Welt und der notwendigen Verdichtung unserer Städte brauchen wir nicht zuletzt aus ökologischen Gründen Hochhäuser - es geht also auch um das Organisieren des Überlebens auf unserem Planeten. Ohne Megacities gibt es kein Überleben auf der Erde."

Hochhäuser sind für ihn eine "Schlüsseltechnologie" - Zehntausende würden noch gebaut werden. "Wir müssen die Städte begrünen, um sie zu zivilisieren, um ihnen das einzuhauchen, was der Mensch braucht und damit er nicht krank wird an ihnen."

Diskussion zum Thema

Am Donnerstag richten das Deutsche Museum Bonn und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Forum der Bundeskunsthalle um 19 Uhr eine Diskussion mit dem Titel "Megacities - Städte außer Kontrolle" aus. Gäste sind Susanne Heeg, Professorin für Geographische Stadtforschung; Peter Herrle, Professor für Internationale Stadtentwicklung; Achim Hütten, Bürgermeister der "Essbaren Stadt" Andernach und Architekt Christoph Ingenhoven. Ranga Yogeshwar moderiert.

Der Eintritt ist frei, aber eine Anmeldung ist erforderlich. Restplätze sind reservierbar unter www.dfg.de/zwanzig30

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