Vergeltungs-Vergewaltigung in Indien Angst vor der Heimat

ISLAMABAD · Zwei indische Frauen flüchten vor einer Vergeltungs-Vergewaltigung

 Protest in Delhi: Demonstranten fordern Härte gegen Vergewaltiger ein. Auf dem Land herrscht ein anderes Rechtsverständnis.

Protest in Delhi: Demonstranten fordern Härte gegen Vergewaltiger ein. Auf dem Land herrscht ein anderes Rechtsverständnis.

Foto: DPA

Eine Stunde benötigten die 23-jährige Meenakshi Kumari und ihre acht Jahre jüngere Schwester, um mit dem Auto von der indischen Hauptstadt Delhi in ihr Heimatdorf Sankraud im Bundesstaat Uttar Pradesh zu gelangen. Es ist ein kurzer Weg für die Familie aus der Gruppe der Dalit, der Unberührbaren im abgeschafften, aber immer noch praktizierten indischen Kastensystem.

"Wir brauchen Schutz, um zurückzukehren und dort leben zu können"

Doch ohne die Rückendeckung von Indiens Oberstem Gerichtshof wollen die beiden Mädchen die kurze Reise in ihr Heimatdorf nicht antreten. "Wir brauchen Schutz, um zurückzukehren und dort leben zu können", appellierte Meenakshi im Namen der Sippe an die Richter, "Leute der Jat-Kaste haben unser Haus an sich gerissen. Die sind zu allem fähig."

Nun steht die Öffentlichkeit der größten Demokratie der Welt vor einem Dilemma. Soll sie den Schilderungen der Dalit oder lieber den Jat glauben? "Alles Lüge", ruft ein junger Mann in Sankraud, "diese Behauptungen entehren uns."

Vor einer Entehrung sind auch Meenakshi Kumari und ihre Schwester geflohen. Der Khap Panchayat, ein nicht gewählter, lokaler Dorfrat, der üblicherweise über Landstreitigkeiten und Nachbarzwist richtet, soll vor einigen Wochen eine drakonische Strafe verhängt haben: Die beiden Töchter der Kumaris müssten sich einer Massenvergewaltigung zur Verfügung stellen und sollten anschließend nackt und mit schwarz gefärbten Gesichtern durch Sankraud gejagt werden.

Vergeltungs-Vergewaltigung als Strafe

"Revenge Rape", Vergeltungs-Vergewaltigung, nennen sich solche Entscheidungen in Indien, bei denen die Töchter in einer Form von Sippenhaft für vermeintliche Verfehlungen von Verwandten büßen müssen. Ein älterer Bruder der beiden jungen Frauen war zuvor mit der verheirateten Ehefrau eines Mitglieds der Jat-Kaste durchgebrannt.

Der Distrikt von Baghpat, in dem auch das Dorf Sankraud liegt, genießt den wenig schmeichelhaften Ruf, eine gewisse Vorliebe für Vergeltungs-Vergewaltigungen zu hegen. 2014 wurde eine 22-jährige Frau auf Geheiß von Dorfältesten von 13 Männern vergewaltigt. Sie hatte sich in den jungen Mann einer anderen Kaste verliebt. Die Familien vergehen vor Scham. Vor allem besitzen die geschändeten Frauen keine Aussichten mehr, jemals einen Ehemann zu finden.

Stürme der Entrüstung wegen Vergewaltigungsfällen

Der Fall Sankraud zeigt, wie selektiv Indiens eigene Wahrnehmung immer noch ist. Während der vergangenen Jahre gab es immer wieder Stürme der Entrüstung wegen Vergewaltigungsfällen. Junge Leute gingen auf die Straße, wenn die Opfer aus ihren Kreisen stammten, und verlangten mit der selbstgerechten Attitüde des Volkszorns die Todesstrafe für die Vergewaltiger.

Einen Sturm der Entrüstung gab es auch nach dem "Vergeltungs-Vergewaltigungsurteil" des Dorfrats in Sankraud - im Ausland. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sammelte 175 000 Unterschriften für eine Resolution, die meisten in Großbritannien. Ganze 17 stammten aus Indien.

Interview

Einem indischen Reporter gelang es nach langem Zureden, mit der Frau zu reden, die angeblich mit dem Bruder der verurteilten Schwestern durchgebrannt war und damit die Affäre auslöste. Sie trafen sich auf dem Dach des Hauses, in dem sie vor ihrer Flucht lebte und in das sie unter unklaren Umständen zurückkehrte.

Ein Verwandter hört argwöhnisch zu, als die Frau ihre Geschichte erzählt. "Ich kannte den Mann kaum", behauptet sie, "er nannte mir nicht einmal seinen Namen. Er hat mich reingelegt und mir einen Job versprochen. Dann hat er mich gegen seinen Willen festgehalten." Es ist eine Geschichte, die man in Indien immer wieder hört, wenn ein Liebespaar - aus welchen Gründen auch immer - zur Heimkehr gezwungen ist. Manchmal stimmt sie. Manchmal dient sie dazu, mühsam den Schein zu wahren.

"Die Antworten klingen so, als ob sie vorher geübt wurden"

Die Frau hält den Kopf gesenkt. Nur ein paar Meter weiter ist das Dach des Hauses, in dem ihr angeblicher Liebhaber wohnte. Es fällt leicht, sich die romantischen Plaudereien im Mondschein auf dem Dach auszumalen, während eine Etage tiefer die Zwänge von Traditionen und Gebräuchen den Alltag diktieren. Dem Reporter fällt auf, dass die Antworten so klingen, als ob sie vorher geübt wurden.

Die indischen Richter am Obersten Gerichtshof wissen jedenfalls derzeit keinen Rat. Sie forderten die Regierung des Bundesstaats Uttar Pradesh auf, bis zum 15. September Informationen beizubringen. Genug Zeit also, um neue Geschichten zu erfinden und die Wahrheit zu vertuschen.

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