Prozess gegen Boston-Marathon-Attentäter Angehörige gegen Todesstrafe

BOSTON · Seine Zeugenaussage brachte selbst hart gesottene Gerichtsdiener in Boston zum Weinen. Bill Richard schilderte vor wenigen Tagen, wie furchtbar entstellt der Körper seines kleinen Sohnes Martin war, als er ihn kurz nach der Explosion der Bomben beim Marathonlauf 2013 in Boston noch kurze Zeit lebend sah.

"Ich wusste, er würde es nicht schaffen", sagte Richard. Er ließ den Achtjährigen im Zieleinlauf liegen, "um Jane zu retten". Seiner siebenjährigen Tochter hatte der Sprengsatz das linke Bein abgerissen, sie überlebte. Seine Frau Denise verlor durch Bombensplitter ein Auge.

Die Richards, denken nicht wenige in der Stadt an der amerikanischen Ostküste, in der gestern wieder die Ausdauerläufer auf die Strecke gingen, müssten an vorderster Front zu finden sein, wenn es um das Strafmaß für den in allen Anklagepunkten schuldig gesprochenen Attentäter geht: Todesstrafe. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Bevor gestern die zweite, weitaus schwierigere Phase im Prozess gegen den 21-jährigen Dschochar Zarnajew begann, in der die Geschworenen zwischen Exekution oder lebenslanger Freiheitsstrafe entscheiden müssen, haben sich Bill und Denise Richard in einem bewegenden öffentlich Plädoyer im "Boston Globe" gegen die Hinrichtung des bisher keinerlei Anzeichen von Reue zeigenden Studenten ausgesprochen.

Hier der entscheidende Auszug: "Wir verstehen nur zu gut die Abscheulichkeit und Brutalität der Taten, die begangen wurden. Wir waren dort. Wir haben es durchleben müssen. Der Angeklagte hat unseren achtjährigen Sohn ermordet, unsere siebenjährige Tochter verstümmelt und einen Teil unserer Seele gestohlen. Wir wissen, dass die Regierung ihre Gründe hatte, die Todesstrafe zu beantragen. Aber die Fortsetzung dieses Bestrebens kann jahrelange Einsprüche zur Folge haben und die schmerzvollsten Tage unseres Lebens verlängern. Wir hoffen, dass unsere beiden Kinder, die überlebt haben, nicht mit der schwelenden, schmerzvollen Erinnerung an das aufwachsen müssen, was der Angeklagte ihnen genommen hat. Ein jahrelanges Berufungsverfahren würde unzweifelhaft dazu führen."

Die Richards drängen deshalb darauf, dass der Fall so schnell wie möglich abgeschlossen wird und Zarnajew ohne die Möglichkeit einer Begnadigung für immer ins Hochsicherheitsgefängnis ADX in Florence im US-Bundesstaat Colorado geschickt wird.

Damit stehen sie nicht allein. Auch die Angehörigen des Wachmanns Sean Collier, den die Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew am 15. April 2013 auf ihrer Flucht erschossen hatten, lehnen die Todesstrafe ab. Ebenso Jessica Kensky und Patrick Dowes, die beide bei dem Anschlag Gliedmaßen verloren haben. "In unseren schwärzesten Momenten wünschen wir, dass ihm die gleichen Schmerzen zugefügt werden, die wir erleiden mussten" schreibt das frisch verheiratete Paar, "aber wir müssen den Drang nach Vergeltung überwinden."

Kensky und Dowes wollen mit der Vergangenheit abschließen. "Es ist an der Zeit, unsere Energie allein in die Zukunft zu investieren." Solange Zarnajew im Scheinwerferlicht stehe, sei das kaum möglich. Exakt das denken auch Denise und Bill Richard. "Erst in dem Moment, wenn der Angeklagte aus unseren Zeitungen und von den Fernsehschirmen verschwindet, können wir damit beginnen, unser Leben und das unserer Familien zurückzugewinnen."

Ob ihr Appell gehört wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Das Justizministerium in Washington befürwortet Zarnajews Exekution. Im Bundesstaat Massachusetts, wo Boston liegt, wurde die Todesstrafe aber bereits 1984 per Volksentscheid abgeschafft. Am Ende reicht ein einzelner Geschworener, der sich gegen die Todesstrafe ausspricht, und Familie Richard kommt zu ihrem ganz persönlichen Recht.

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