Migration "Wir schaffen das": Merkels Mantra, Ausgang offen

Berlin · Merkels Flüchtlingspolitik lässt niemanden kalt, weder Kritiker noch Befürworter. Sie berührt die deutsche Identität - und entscheidet wohl über die politische Zukunft der Kanzlerin.

 Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von Pro Asyl.

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von Pro Asyl.

Foto: Christoph Schmidt/Archiv

Nein, an eine solche Wirkung dieses Satzes hätte sie selbst nicht geglaubt. Er wird ihre Kanzlerschaft prägen. Genauer gesagt sind es nur drei Worte. "Wir schaffen das."

Es war die Botschaft der Angela Merkel am 31. August 2015. Und sie ist es bis heute. Die Christdemokratin will die Bürger überzeugen, dass ihre Bundesrepublik mit den Werten Humanität, Menschenwürde, Liberalität, Demokratie, Rechtsstaat, soziale Ordnung und wirtschaftliche Stärke auch so etwas wie ein Versprechen und eine Verpflichtung ist. Für sich und andere. Dass man helfen kann - und muss.

"Es ist ja vor allem ein Satz des Anpackens, den jeder kennt", sagt Merkel der "Süddeutschen Zeitung" am ersten Jahrestag ihrer denkwürdigen Pressekonferenz. Und sie räumt Fehler ein. Aber mitnichten in der jüngeren Flüchtlingspolitik, so wie es sich CSU-Chef Horst Seehofer so wünscht.

Bei der "Grenzöffnung" wie Merkels Entscheidung mit Österreichs damaligen Kanzler Werner Faymann in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 genannt wird, als sie in Ungarn festsitzende Flüchtlinge unbürokratisch und ohne große Kontrollen einreisen ließen. Die Grenzen waren aber immer auf. Das ist das Wesen und der Segen des Schengen-Abkommens. Es ging hier um eine Ausnahme von Kontrolle und Bürokratie. Eine Nothilfe.

Merkel räumt Fehler in der Vergangenheit ein. 2004 - da war Gerhard Schröder noch Kanzler - und 2005, in ihrem ersten Jahr als Regierungschefin. "Schon 2004 und 2005 kamen ja viele Flüchtlinge, und wir haben es Spanien und anderen an den Außengrenzen überlassen, damit umzugehen. Und ja, auch wir haben uns damals gegen eine proportionale Verteilung der Flüchtlinge gewehrt", sagt sie.

Am Sonntag, dem 4. September, wenn sich auch ihre tiefgreifende Entscheidung mit Faymann zum ersten Mal jährt, ist die Kanzlerin weit weg von Deutschland. 8405 Kilometer Luftlinie. Dann zerbricht sie sich mit den Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer im ostchinesischen Hangzhou den Kopf über die Weltkrisen. Dazu gehört auch die Migrations- und Fluchtbewegung.

Fast eine Million Menschen nahm Deutschland 2015 auf. Die Stimmung schwankt seither zwischen Willkommen und Abschreckung. Die Umfragewerte der CDU-Chefin sind nun vergleichsweise schlecht, die Schwesterpartei CSU und der Koalitionspartner SPD distanzieren sich von ihrem Flüchtlingskurs, Merkels Verhältnis zu CSU-Chef Seehofer ist zerrüttet und das Land weiß nicht, ob die Kanzlerin zur Bundestagswahl 2017 wieder antritt. Sie sagt es einfach noch nicht.

An diesem Sonntag ist auch Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, in dem Land, wo Merkels Bundestagswahlkreis Vorpommern-Rügen - Vorpommern-Greifswald I liegt und die Landes-CDU sozusagen ihr Heimatverband ist. Laut Umfragen ist es nicht ausgeschlossen, dass die rechtspopulistische Alternative für Deutschland der CDU Platz zwei hinter der SPD streitig machen wird. Das Ergebnis dürfte auch als Abstimmung über Merkels Flüchtlingspolitik gewertet werden.

Deutschland hat sich verändert in diesem Jahr. Folgt man der Auffassung von Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) hat sich die Bundesrepublik ihrer humanitären Verantwortung gestellt und ist damit moderner und erfolgreicher geworden als etwa Länder, die sich wie Ungarn, Polen oder Tschechien gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stemmen. Man könne nicht Welthandel und Globalisierung wollen und bei einer Flüchtlingskrise die Rollläden herunterlassen, sagt er im Deutschlandfunk. Folgt man aber Merkels Widersachern, hat diese Flüchtlingspolitik Deutschland überfordert und neue Gräben gerissen.

Rechtspopulisten haben Auftrieb, oftmals fühlen sich sozial Schwächere Flüchtlingen gegenüber benachteiligt, Bürger befürchten kulturelle und religiöse Konflikte im eigenen Land. Seehofer und nun sogar SPD-Chef Sigmar Gabriel nennen es einen Fehler, dass Merkel keine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen eingezogen hat. Eine solche Begrenzung lehnt die Kanzlerin bis heute ab, weil sie das für inhuman und verfassungswidrig hält. Gabriel hält seit Neuestem dagegen: "Es gibt natürlich so etwas wie eine Obergrenze, das ist letztlich die Integrationsfähigkeit des Landes." Merkel sagt dazu nur: "Wir haben alles gemeinsam beschlossen."

Die Flüchtlingszahlen sind inzwischen deutlich gesunken. Gründe dafür sind, dass osteuropäische Staaten ihre Grenzen wieder mit Zäunen abgeschottet haben und die Europäische Union einen Flüchtlingspakt mit der Türkei geschlossen hat. Mit einem Land, das zwar in die EU will, dessen Präsident Recep Tayyip Erdogan sich aber nach dem erfolglosen Putsch von Militärs im Juli einer "Säuberungswelle" in der Bevölkerung rühmt. Merkel wird vorgehalten, dass sie Erdogan mit Samthandschuhen anfasse, um den Pakt nicht zu gefährden. Die Türkei jedenfalls hält viele Flüchtlinge von Griechenland nun fern.

Flüchtlingsorganisationen und ehrenamtliche Helfer kritisieren, die große Koalition habe das Asylrecht inzwischen so verschärft, dass den Flüchtlingen das Leben in Deutschland unnötig erschwert und ihre Integration immer noch nicht groß gefördert werde.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt sagt: "Statt Schutz der Flüchtlinge geht es heute nur noch um den Schutz vor den Flüchtlingen." Der Bereitschaft, Flüchtlinge zu schützen, sei ein "langanhaltender Winter der Restriktionen" gefolgt. Die Merkel-Regierung verhindere so, "dass Flüchtlinge es schaffen."

Andere wiederum verlangen noch viel mehr Auflagen, Vorgaben und Härten gegen Asylbewerber, die sich nicht anpassen. Nach der Silvesternacht, in der vor allem in Köln Frauen von Flüchtlingen sexuell belästigt wurden, kippte die Stimmung.

Merkel müsse noch mehr erklären, heißt es in mehreren Medien. Eine moderne Gesellschaft funktioniere wie eine Familie, schreibt das Magazin "Der Spiegel": Wenn sich etwas Gravierendes verändert, muss jemand erklären, was gerade passiert ist - auch wenn es alle gesehen haben. Das leiste in diesen Tagen das Buch "Die neuen Deutschen" von dem Politologen Herfried Münkler und der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler. Dieses Buch zeige, dass Merkel "im Einklang mit den heiligen Werten des Westens" gehandelt habe. Gegen Folter, gegen Grausamkeit, für Hilfe in der Not. Die Flüchtlingspolitik berühre wie einst die Ostpolitik und die Nachrüstung die nationale Identität.

Ein Jahr nach Merkels historischer Entscheidung erscheint noch offen, in welche Richtung sie diese nationale Identität prägen wird. Und ob sie mit ihrer Politik weiter Wahlerfolge haben oder scheitern wird. Sie beteuert aber: "Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns daran lieb und teuer ist. Aber Deutschland hat sich seit Gründung der Bundesrepublik auch immer wieder verändert. Veränderung ist nichts Schlechtes. Sie ist notwendiger Teil des Lebens."

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