25 Jahre Deutsche Einheit Willkommen im neuen Großraumschiff

Berlin · Der Politikbetrieb und seine Beobachter haben sich auf dem Weg von Bonn nach Berlin verändert - nicht nur zum Besseren. Eine Analyse von unserem Berlin-Korrespondenten Holger Möhle.

 Kunst am Bau I: Das Bonner Bundeskanzleramt mit der Plastik des englischen Bildhauers Henry Moore. Kanzler Helmut Schmidt attestierte dem 1976 fertiggestellten Bonner Gebäude den "Charme einer rheinischen Sparkasse"...

Kunst am Bau I: Das Bonner Bundeskanzleramt mit der Plastik des englischen Bildhauers Henry Moore. Kanzler Helmut Schmidt attestierte dem 1976 fertiggestellten Bonner Gebäude den "Charme einer rheinischen Sparkasse"...

Foto: Stadt_Bonn

Peter Heimann ist an einem Spätsommertag losgefahren und 650 Kilometer weiter westlich in der neuen Welt angekommen. Bonn, Hauptstadt der damals noch kleineren Bundesrepublik Deutschland, war im September 1990 so wie heute nur eine Tagesreise von Berlin entfernt. Und doch landete Heimann als einer der ersten ostdeutschen Korrespondenten, die von ihren Zeitungshäusern zur Berichterstattung über bald gesamtdeutsche Politik an den Rhein geschickt wurden, in einer sehr fremden Umgebung. Heimann erinnert sich: "Das war beinahe wie Ausland, wo man deutsch spricht." Alles fremd, alles neu. Bonn, Schaltzentrale einer westeuropäischen Führungsnation, musste vom Korrespondenten der in Dresden erscheinenden "Sächsischen Zeitung" erst entdeckt und dechiffriert werden.

Zum Beispiel an der Bar im alten Wasserwerk. Oder in der Lobby. Oder in einem der Hintergrundkreise, in denen Politiker das hoffentlich vertrauliche Gespräch mit Journalisten suchen. "In Bonn war alles kleinteiliger und angenehmer. Es war langsamer, aber mit mehr Kompetenz", sagt der heute 59-jährige Heimann, der seit 25 Jahren als politischer Korrespondent arbeitet. Erst in Bonn, dann in Berlin.

[kein Linktext vorhanden]Heute bilde sich in den Gängen des Reichstagsgebäudes augenblicklich eine Menschentraube, sobald Mikrofone und Kameras in Richtung eines Politikers gehalten werden.

In Bonn habe man im Regierungsviertel "eigentlich immer jemanden getroffen". Ein gewisser Kontaktautomatismus im Viertel der kurzen Wege. In Berlin sei das völlig anders: "Hier musst du aktiv werden, sonst triffst du niemanden." Berlin sei "schneller und oberflächlicher". Am Abend des Bonn/Berlin-Beschlusses am 20. Juni 1991, als sich eine Mehrheit des Bundestages für den Umzug entschied, sah Heimann im Haus der Bundespressekonferenz Tränen fließen: "Da haben Sekretärinnen geweint, weil die dachten, die müssen jetzt in die Steppe."

Regierungsviertel hier wie dort

Raumschiff Bonn, Raumschiff Berlin. Regierungsviertel hier wie dort. Politische Beschlüsse würden zwar "heute "nicht anders gemacht" als vor 25 Jahren, sagt Heimann. Aber sie würden in der schnellen Zeit anders beeinflusst. Der Spiegel habe damals häufig die Agenda einer ganzen Woche gesetzt. "Heute setzt er fast gar nichts mehr." Zu viel Konkurrenz im Zeitalter des Internet, es lebe die schnelle Meldung. "Die Pseudonachrichten haben unglaublich zugenommen", registriert Heimann. Ein Beispiel: Bundeskanzlerin Angela Merkel sei beim Besuch der Wagner-Festspiele kollabiert. Angeblich. "Dabei ist nur der Stuhl kollabiert, auf dem die Kanzlerin gesessen ist."

[kein Linktext vorhanden]Norbert Blüm hat in seinem politischen Leben viele Debatten erlebt und aktiv bestritten. Längst ist der frühere Bundesarbeitsminister ("Die Rente ist sicher") im ebenso aktiven Unruhestand. Was Berlin von Bonn lernen kann: "Mehr Leidenschaft. Vielleicht ist das nur Nostalgie von alten Leuten; aber große Debatten, die das Herz der Menschen bewegen, fehlen. Mir fehlt die Leidenschaft, um Alternativen zu kämpfen", sagt der 80-jährige Blüm.

Die Politik habe sich mit dem Umzug von Parlament und Regierung verändert. "Die Bedingungen, unter denen in Bonn Politik gemacht wurde, waren auch andere als in Berlin. Wir haben es heute viel mehr mit globalen Dimensionen der Politik zu tun: Europa, Weltfinanzpolitik, Weltklima. Das sind alles keine nationalen, sondern das sind globale Themen", sagt Blüm. Nationale Politik habe an Bedeutung verloren. Und genau dies müsse man den Leuten auch sagen. Ungarn lässt in einem Europa der offenen Grenzen wieder einen Zaun mit Stacheldraht an der Grenze zu Serbien hochziehen. Da kann Blüm nur den Kopf schütteln.

Kreativer Protest als beliebtes Instrument

Früher, im Raumschiff Bonn, war der kreative Protest beliebtes Instrument, um Interessen zu reklamieren oder auf Missstände aufmerksam zu machen. Einfache Mittel genügten. Ein Dienstfahrrad der Grünen-Fraktion oder eine Fraktionssitzung unter freiem Himmel auf dem Tulpenfeld als Protest, weil die Bundestagsverwaltung den 1983 neu in den Bundestag gewählten Grünen zunächst keine Räume zuwies, genügten. Danach hatten die Grünen-Abgeordneten und ihre Mitarbeiter Räume und Fraktionssaal, wie sich Heinz Suhr erinnert, Fraktionsmann der ersten Stunde. Zum Jubiläum "30 Jahre Grünen-Bundestagsfraktion" riet Suhr der heutigen Generation der Politikmacher: "Die Grünen müssen einfach wieder frecher werden."

[kein Linktext vorhanden]Ihm fehlt im heutigen Politikbetrieb "eine gewisse Agilität und Kreativität". "Warum fährt die gesamte Grünen-Fraktion nicht einfach mal zur Europäischen Zentralbank und macht dort einen öffentlichen Sitzprotest mit anschließender Debatte über die Euro-Politik?" Suhr wünscht mehr Aktion statt Reaktion. "Die Grünen sind so angepasst, dass es manchmal schon zu viel ist." Heute würden solche Aktionen wie einst im Bonner Tulpenfeld von Satire- Redaktionen veranstaltet, nicht von kreativ-aufsässigen Parlamentariern. "Man versteht ja überhaupt keinen Spaß mehr in Berlin. Das ist wahrscheinlich der größte Unterschied zu Bonn. Man nimmt in Berlin alles viel zu ernst." Humor: weitgehend Fehlanzeige.

Politiker und Journalisten sind Getriebene

Die 2013 verstorbene Journalistin Tissy Bruns, lange Jahre Vorsitzende der Bundespressekonferenz, kommt in ihrem Buch "Republik der Wichtigtuer" über den Berliner Politikbetrieb zu folgendem Resümee: "Berlin-Mitte ist zu einer Bühne von Politik und Medien geworden, die von der Lebenswirklichkeit der Bürger weiter entfernt ist als das legendäre Raumschiff Bonn. In Wahrheit sind Politiker und Journalisten Getriebene einer Medienentwicklung, deren Zwänge wie nie zuvor auf allen Ebenen die Kommunikation und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten bestimmen und durchdringen."

Chronologie: Vom Mauerfall bis zur deutschen EinheitWie Heimann und Suhr kommt auch Bruns zu der Erkenntnis, dass man in Bonn noch eng beieinander gewesen und auch eine andere Stufe der Vertraulichkeit gelebt worden sei. Doch Quote und Bekanntheit zerstörten Glaubwürdigkeit und töteten Charisma und Aura. "Sie werden sich ähnlicher, die Politiker und die neue journalistische Oberschicht", vermeldete Bruns. Inzwischen sei neben politischen Alphatieren auch gar von "Alphajournalisten" die Rede.

Im Großraumschiff Berlin haben sich Umgebung und Gewohnheiten sogenannter Happenings verändert. Heute bitten Parteien und Politiker in coole Lounges und szenige Hinterhof-Lofts, wenn sie ein neues Logo vorstellen wollen und ein Jubiläum zu feiern haben. Politik als Event. Inhalte heißen plötzlich "Content", als ginge es darum, die Füllgröße einer Haarshampooflasche zu benennen.

Treffen in der "Provinz"

Im ach so beschaulichen Bonn habe es noch Treffpunkte für Politiker und Journalisten gegeben, die eine echte Nachrichtenbörse waren, sagt Suhr: die "Provinz" zum Beispiel. Da sei "wie im Treibhaus der politische Dampf entstanden". So etwas fehle in Berlin. "In Berlin wird einfach nicht mehr richtig kommuniziert", ist Suhr überzeugt. Zu viel abseitige Zerstreuung.

Ein Prominentenlokal wie das "Borchardt" in Berlin könne einen echten Treff nicht ersetzen. "Einfach zu viel Eideidei und Adabei", sagt Suhr und meint mit dem letzten Attribut jene, die immer gerne mit dabei sind, wenn A- oder B-Prominente eventuell für Klatsch sorgen könnten. Und: In Berlin herrscht eine quasi permanente Aufgeregtheit. "Man ist einfach wegen allem sofort elektrisiert", findet der frühere Bundestagsabgeordnete und spätere Pressesprecher der acht ostdeutschen Abgeordneten von Bündnis 90/Grünen, die nach der Bundestagswahl 1990 und dem Ausscheiden der (West-)Grünen aus dem Bundestag das Symbol der Sonnenblume im Parlament hochhielten. Natürlich - verglichen mit der Bonner Zeit habe sich auch die Zahl der Journalisten in Berlin verdoppelt.

Rheinland behauptet sich gegen Berlin-Sog Jedes Halb-Ereignis taugt zur Schlagzeile, der mediale Konkurrenzkampf treibt die Schlagzahl der Nachrichten nach oben, erst recht seit der Ankunft im Internet-Zeitalter. Und dann sei da noch die enorme Zahl "unqualifizierter Lobbyisten", lästert Suhr. Früher in Bonn habe man immer gewusst, "wer warum an die Bürotür klopft". Heute funktioniere dies mehr nach der Methode "Nepper, Schlepper, Bauernfänger".

Großes Spiel, aber auch viel Rauch. Landschaft, Atmosphäre, Tempo haben sich verändert, verdichtet und beschleunigt. Auch das ist ein Preis für den Umzug nach Berlin.

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